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Literarische Séance beschwört die Geister der Schumanns

Das Leben von Robert und Clara Schumann, die manisch-depressiven Geistervariationen des Komponisten, greift Friederike Mayröcker in ihren Prosavariationen auf. Mit feinem, untrüglichen Sinn für das Gewicht der Worte nähert sie sich dem Gleichgewicht von Leben und Tod.

Von Michaela Schmitz | 21.02.2011
    Engel hätten ihm vorgesungen. Die ganze Nacht habe er ihre Stimmen gehört. Bis in den Tag notiert er seine musikalische Eingebung. Mitten in der Komposition läuft Robert Schumann aus dem Haus durch das Gedränge des Düsseldorfer Karnevals und stürzt sich in den februarkalten Rhein – und wird gerettet. Der manisch-depressive Komponist lässt sich in die Nervenheilanstalt einweisen. Doch seine Geistervariationen kann er noch beenden. Gespenstisch und besänftigend zugleich klingt seine letzte Musik; geschrieben für seine Frau, die Pianistin Clara Schumann. Gegen- und ineinanderfließende Klangwellen verschmelzen seelische Qualen und emotionale Höhenflüge zu nie gehörten Harmonien. In der Schönheit der beinahe überirdischen Klänge scheinen Schmerz und Glück einander aufzulösen.

    Friederike Mayröcker greift dieses musikalische Thema Robert Schumanns in ihren neuen Prosavariationen auf. Als wehmütig schwebendes Basso Continuo unterlegt sie seine letzte Komposition ihrer literarischen Phantasie "vom Umhalsen der Sperlingswand, oder 1 Schumannwahnsinn", und versucht, die Harmonie der Geistervariationen zwischen Wehmut und Erleuchtung auf ihren Text zu übertragen. Analog zu Schumanns letzter Musik am Rande der Wahnvorstellung, treibt Mayröcker ihre halluzinative Prosa hier bis an jene äußerste Grenze, wo verwirrende Traumbilder in visionäre Klarheit umspringen.


    "das Lorbeerbäumchen spricht zu mir sehr leise man hört es kaum es drückt sich grün in die Ecke des Zimmers oh sage ich wie schön du bist sein Blattwerk reglos 1 wenig wie Säge wie Schleier wie Sprache wie grüner Schnee ich halte ihm grüne Lettern vor seinen Leib dasz es erzittert weiszt du noch sage ich zu ihm damals in den Holundernächten den Liliennächten als der Mond in eine Wiege damals als es ächzte im Gezweig der beiden Birnbäume vor dem Tor."


    Mayröckers literarische Séance beschwört die Geister Robert und Clara Schumanns in mehrschichtig übermalten surrealen Polaroids. Die Ich-Erzählerin selbst und ein namenloser "Er" schlüpfen in Claras und Roberts Seelen-Hüllen. Mayröcker macht das symbiotische Künstlerpaar zum Medium ihres stetig fortgeschriebenen Liebesdialogs mit ihrem verstorbenen Lebenspartner, dem Schriftsteller Ernst Jandl. In einem Anfall von Schumannwahnsinn legt sie die vier Figuren übereinander. Ihre jeweiligen Biografien werden fragmentarisiert und bis zur Ununterscheidbarkeit neu durchmischt. Der ironische Coup des Rollentauschs: Nicht das Schriftstellerpaar, sondern Robert und Clara Schumann sind die Mittler der Geschichte.

    Die irreale Erzählperspektive ist nur ein Beispiel der für Mayröcker typischen halluzinativen Verschiebung von Wirklichkeitsfragmenten. Ziel ist die künstlerische Erzeugung der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem. Ihr Kunstwille, Gegensätzliches zusammenzufügen und zu harmonisieren, zieht sich durch alle ihre Texte – bis in die für sie charakteristische offene fragmentarische Satz-Montagetechnik.

    "die Flamm', sagt der Komponist, und seh die Sonn' vorüberflieg'n, der Komponist sagt mir er habe mit Blixa Baargeld ein Interview gemacht, so wie Hungernde Baumrinde essen, so die Vereinsamten = die einsame Seele: Bücher, Sätze und Worte, Musiken, die Abendröte, den Fliederbaum. Die speichelnasse Manschette um den Schneeglöckchenstrauß ist getrocknet, sagt die Pianistin, des Komponisten Hemdmanschette – ich sah zu, so der Komponist, wie die Pianistin am PALMSONNTAG die Palmzweige mit Weihwasser bestrich, eigentlich streichelte, es jagte mir die Tränen."


    Unverwechselbar Mayröckers halluzinative Prosa, in der sie unterschiedlichste Textfragmente in harter Montage ineinanderschachtelt. Gespenstisch beseelte Pflanzenmotive, magische Kindheitserinnerungen oder surreal eingestreute christliche Symbole wachsen unberechenbar in den Text hinein wie Gräser durch den Asphalt und drohen ihn zu überwuchern. Im Gegenzug durchbrechen Wirklichkeitsfragmente wie Nachrichten, Telefonate oder aktuelle Lektüre-Zitate die Fiktion. Verschiedenste Schichten legen sich übereinander. Daraus entsteht eine multiperspektivische poetische Überblendung von vibrierender Unschärfe.
    Das Außergewöhnliche dieser Prosavariationen aber ist ihre schwebende poetische Leichtigkeit. So leicht sie klingen, so schwer sei es:

    "ach! die Waage zu finden zwischen den Lustgärten der Sprache und den Schluchten der Sprache oder dem Schluchzen der Sprache auch Ginsterwald. man musz die Sprache empfinden, hier und da ein Gewicht darauflegen oder wegnehmen wie Apothekerwaage, so musz es stimmen, so musz es tönen."


    Extreme Ungleichgewichte werden mit so hohem Maß an Feingefühl für fragile verbale Statik ins Gleichgewicht gebracht, wie es nur poetischen Altmeistern wie Friederike Mayröcker vorbehalten bleibt. Es gehe um nichts weniger, so formuliert der Maler Gerhard Richter dieses künstlerische Ziel, als das Unterschiedlichste und Widersprüchlichste in möglichster Freiheit lebendig und lebensfähig zusammenzubringen – ohne falsche Paradiese zu erfinden. Nur Ausnahmewerke wie Schumanns letzte Musik können diesen absoluten Anspruch an die Kunst einlösen.
    In magischen Visionen versucht Mayröckers Text, jene kostbaren Momente des höchsten spannungsgeladenen Gleichgewichts immer wieder heraufzubeschwören. Geliebt habe er jene seltenen Augenblicke, so der Komponist, wie den nach dem Sprung vom Brett vor dem Sturz ins Wasser, wo der Körper einen Lidschlag lang zu schweben scheint. Und wie in einer Traumsequenz sieht man die Pianistin ein weißes Damasttischtuch zum heimlichen Fest ausbreiten, so, dass es beinahe in der Luft stehen- und hängenbleibt, bis es sich erst nach einiger Zeit über der langen Tafel niederlässt. Am Ende geht es in allem immer nur um eins: das Gleichgewicht von Leben und Tod – erreichbar nur in jenen kurzen Momenten der Schwerelosigkeit, die das Allerschwerste so leicht wie möglich und damit ein wenig erträglicher erscheinen lassen. Mayröcker findet dafür ein betörendes, den Harmonien von Schumanns letzter Musik vergleichbares Bild von gespenstischer Schönheit:

    "hingebungsvoll dem eigenen Ende entgegengeschlachtet wie jene tote schwarze Katze mit glänzendem Fell im Hausflur mit aufgesperrtem Mund, herzzerreiszenden Zähnchen, geschlossenen Augen und gestreckten Gliedmaszen, 1 erschütternde Figur. Wohin sie sich vermutlich mit letzter Kraft GESCHLEPPT hatte bevor der Geist sie verliesz, aus ihrem offenen Mund 1 stummer Schrei nämlich Todesschleim usw. [Sie] besasz eine grosze Schönheit, ihr Fell glänzte, ihre Erscheinung schien ein Geheimnis zu hüten, die Gliedmaszen in einer langen Sehnsucht hingestreckt."


    Das mehrfach wiederholte Bild von der toten Katze erweist sich jedoch schließlich als Fotografie. Die Vision eines versöhnlichen Todes scheint allein innerhalb der Kunst möglich. Nur sie vermag Disparates zu verbinden, ohne die Gegensätze in falscher Harmonie aufzulösen. Die Ironie jeder künstlerischen Anstrengung bleibt allerdings: Die Versöhnung mit dem Tod ist in der Realität zum Scheitern verurteilt. Sie ist so aussichtslos wie das "Umhalsen der Sperlingswand" – mit dieser absurden Phantasie findet Mayröcker dafür eine unvergleichliche Illustration von herzzerreißender tragischer Komik. Trotzdem nähert sich Friederike Mayröcker diesem Punkt der Schwerelosigkeit in ihren neuen Prosavariationen "vom Umhalsen der Sperlingswand oder 1 Schumannwahnsinn" immer wieder mit so feinem, untrüglichen Sinn für das Gewicht der Worte, dass dem Leser ein ums andere Mal der Atem stockt.

    Buchinfos:
    Friederike Mayröcker: "vom Umhalsen der Sperlingswand, oder 1 Schumannwahnsinn", Suhrkamp Verlag 2011. 41 Seiten, 14,90 EUR.