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Literarischer Lebensekel

"I would prefer not to" - "Ich möchte lieber nicht". Mit diesen lakonischen Worten verweigert der New Yorker Kanzleischreiber Bartleby die ihm zugewiesenen Aufgaben, und je mehr Aufgaben ihm zugewiesen werden, desto störrischer bringt er sein stereotypes "Ich möchte lieber nicht" vor. In der rätselhaft verschlossenen Figur dieses Schreibers sind Kritik an der stupiden Welt der Bürokratie, eine skurrile Prosperitätsverweigerung und existentieller Lebensekel literarisches Ereignis geworden. Doch hat ihr Erfinder Herman Melville mit Bartleby auch ein vexiertes Selbstporträt geliefert. Die Erzählung erschien 1853, zwei Jahre nach "Moby-Dick", ein Jahr nach "Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten", jenen beiden gewaltigen, rücksichtslos eigensinnigen Romanen, mit denen der bis dahin überaus erfolgreiche Autor die Kritik gegen sich aufbrachte und sein Publikum nachhaltig verstörte.

Von Klaus Modick | 02.03.2005
    Mit erst 34 Jahren war Herman Melville damit für die zeitgenössische, literarische Welt bereits ein erledigter Fall. Zwar schrieb er weiter, aber praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit, galt als Sonderling, wenn nicht gar als verrückt, und war bei seinem Tod 1891 so obskur geworden, dass ein Journalist, der seinen Nachruf verfasste, ihn mit Vornamen fälschlich Hiram nannte.

    Seitdem ist viel gerätselt worden über die Gründe, aus denen Melville sich dem damaligen Literaturbetrieb entzog, ästhetisch bis zur Unverständlichkeit kompromisslos, gegenüber Auftragsarbeiten allergisch und in Sachen seiner eigenen Person verschwiegen bis zur Selbstverleugnung. Für ihn gilt, was er über Bartleby schrieb: "Für eine vollständige und befriedigende Lebensbeschreibung dieses Mannes gibt es, glaube ich, keine Unterlagen. Das ist ein nicht gutzumachender Verlust für die Literatur. Bartleby gehörte zu den Menschen, über die sich nichts ermitteln lässt, es sei denn aus den Originalquellen, und die sind in seinem Fall sehr dürftig."

    Zur Rekonstruktion von Melvilles Leben sind autobiographische Dokumente ebenfalls dürftig. Drei Reisetagebücher sind erhalten und Briefe, die aber eben wegen seiner Abneigung, sich in Briefen persönlich zu offenbaren, häufig wenig aussagekräftig und lückenhaft sind. An ihn gerichtete Briefe sind so gut wie gar nicht erhalten. Im Rahmen der deutschen Werkausgabe Melvilles bei Hanser, eines mit Mut und langem Atem angelegten, verlegerischen Groß-Projekts, hat nun der Herausgeber Daniel Göske das vorhandene Material der Briefe, Tagebücher und verstreuten Aufzeichnungen zu einer Chronik dieses Schriftstellerlebens zusammengestellt und mit sachkundigen Kommentaren und Überblicksskizzen verknüpft.

    Lückenlose Vollständigkeit ist nicht beabsichtigt, da sich Melvilles Leben über weite Strecken und in vielen Details autobiographischer Erschließung widersetzt. Das Zusammenspiel von authentischen Selbstzeugnissen und leuchtkräftigen Details in den Kontextskizzen soll allerdings, so der Anspruch des Herausgebers, dabei helfen, sich bruchstückhaft und vorläufig vorzustellen, wie dieses rätselhafte Dichterleben gewesen ist - und dass es in vielen Einzelheiten auch ganz anders gewesen sein könnte. Mit Spekulation hat diese Konstruktion freilich nichts zu tun, aber einer ihrer vielen Vorzüge ist es, keine biographischen Grabsteine auf dies Leben zu wälzen, sondern im vorhandenen Material das Unaufgelöste und Widersprüchliche durchscheinen zu lassen. Bei aller philologischen Strenge und Seriosität wird solche Behutsamkeit und Offenheit des Horizonts Melville gerechter als jede biographische Selbstgewissheit. "Es war verrückt von ihm", schrieb T. H. Lawrence, "über unseren Horizont zu blicken. Irgendwohin, nur hinaus aus unserer Welt, um einen Horizont zu überschreiten, zu einem anderen Leben. Irgendwie, irgendwo, irgendwann muss Liebe Erfüllung sein, und das Leben ein Ding der Glückseligkeit. Das war sein festes Ideal. Seine Fata Morgana."