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Literarisches Quartett im ZDF
Und wieder sind "... alle Fragen offen"

13 Jahre lang war das "Literarische Quartett" mit Marcel Reich-Ranicki, dem in dieser Woche gestorbenen Hellmuth Karasek und mit Sigrid Löffler, später Iris Radisch, eine Institution. Jetzt hat das ZDF mit einer neuen Besetzung einen Wiederbelebungsversuch gestartet. Bis die Sendung wieder Kultstatus hat, wartet noch einige Arbeit.

Von Arno Orzessek | 03.10.2015
    "Spiegel"-Literaturchef Volker Weidermann (r), Moderatorin und Autorin Christine Westermann und Kolumnist Maxim Biller sitzen auf Sesseln vor einem Spiegel.
    Ein Teil des neuen "Literarischen Quartetts": "Spiegel"-Literaturchef Volker Weidermann (r), Moderatorin und Autorin Christine Westermann und Kolumnist Maxim Biller, am 25.04.2015 in Berlin. (Jule Roehr / ZDF / dpa)
    Kaum nötig zu sagen: Der Geist des alten Literarischen Quartetts schwebte im Berliner Ensemble unter der Decke. Und als Volker Weidermann an den verstorbenen Helmuth Karasek erinnerte, klangen Stimme und Grammatik etwas brüchig. "Wir – heute und jetzt – werden einfach versuchen, eine so gute Sendung zu machen, die ihm gefallen hätte."
    Wohl ein allzu frommer Satz in den Augen Maxim Billers. Er spekulierte über die wahren Todesursache Karaseks: "Ich glaube, er hat sich verabschiedet – und es war sein letzter Gag -, weil er diese Sendung nicht mehr sehen wollte." Fünf Minuten später war klar: Biller will die Herrschaft, er will auf den verwaisten Thron Marcel Reich-Ranickis.
    Billers erste Strategie: Urteile ohne Zwischentöne. Etwa zum Roman Der dunkle Fluss des Nigerianers Chigozie Obioma: "Für mich das beste, das beste zeitgenössische Buch, das ich in den letzten Jahren gelesen hab."
    Billers zweite Strategie: Wildes Gewürfel mit XXL-Namen. "Ich hab überhaupt kein Problem mit so 'nem Superlativ: Wie so 'ne Verwicklung wie beim Prozess von Kafka. Für mich ist das ein moderner Klassiker. Tom Sawyer, 'Der Fremde' von Camus – ich glaub, dieses Buch ist unglaublich."
    Zu weiteren Strategien gleich mehr.
    In tiefem Kontrast zu Billers Diskursmacht-Ergreifung: Christine Westermanns Bibelstunden-Ton und ihre anfangs erschreckend unambitionierte Rhetorik: "Ich fand das Buch schwierig, um gleich mitten rein zu gehen. Ich fand die Geschichte spannend. Die war gut erzählt."
    Zugleich gab Westermann die Wortpolizistin. Können Kinder auf dem Schulhof "plaudern", wie es bei Obioma heißt? "Das glaube ich nicht, das glaub ich nicht. Denn Kinder sind Kinder. Das glaub ich nicht." Merke: Kinder müssen quasseln oder kreischen oder so. Und dann Obiomas popelige Nasensekretbeschreibungen! "Ich finde, 'ne Rotznase ist 'ne Rotznase ist ´ne Rotznase. Ein Fahrrad ist auch kein Drahtesel, sondern ein Fahrrad."
    Nicht ganz so klug wie sonst wirkend, aber gewohnt konzentriert: Julie Zeh als Gast der Premieren-Sendung. Gegen Zeh brachte Biller seine dritte Strategie in Anschlag: Lautstark besser wissen, was der andere meint, als dieser andere selbst. "Ich bin nicht in der Lage, das Buch nur gut zu finden, weil ein nigerianischer Autor über Nigeria schreibt oder weil wir etwas erfahren über die Zerrissenheit Afrikas." – "Sie mögen es aus einem anderen Grund nicht." – "Das möchte ich aber selber sagen, aus welchen Grund ich es nicht mag." – "Es wird Ihnen etwas erzählt und Sie…" – "Ich möchte es aber trotzdem selber sagen." – "Es wird Ihnen etwas erzählt …" (Applaus)
    Zeh und Weidermann einigten sich unterdessen: Literarischer Kolonialismus bringt's nicht. "Wir, wir Deutschen möchten einem Nigerianer sagen …, was er zu schreiben hat." – "Ist ja Quatsch." – "Eigentlich Quatsch."
    Das stimmt zwar. Andererseits aber ist Schriftstellern-Vorschriften-Machen eine klassische Quartett-Technik. Biller behauptete sogar, Ilja Trojanow hätte mit "Macht und Widerstand" im Sinne der Literatur rein gar nichts geschriftstellert: "Dieses Buch ist keine Literatur … Es ist Propaganda."
    In den sachlichsten, formatbedingt langweiligsten Minuten der Sendung kämpfte Julie Zeh für Trojanows Roman – teils mit sehr großen Vokabeln: "Das Interessante ist doch, wie nah man an das Existenziellste des menschlichen Seins herankommt. Also die Frage: Was sind wir bereit zu opfern für unsere Überzeugungen?"
    Womit wir erneut bei Westermanns Stellen-Fetischismus wären – und bei Billers vierter Herrschaftsstrategie: Gnadenlose Herablassung und zärtliche Diffamierung. "Er hat so wunderbare Sätze wie 'In der Hölle geht die Saat der Menschlichkeit auf'. Das ist ein toller Satz." – "Das ist ein total banaler Satz." – "Finde ich nicht." – "Frau Westermann! In der Hölle geht erstmal gar nichts auf, fangen wir schon mal damit an. Zweitens gibt es keine Hölle." – "Für mich gibt es eine Hölle und einen Himmel."
    Keine Frage, mit solchen Scharmützeln erfüllt das Zirkus-Quartett seine höchste Bestimmung.
    Westermann gewann indessen an Souveränität. Am vierten Band von Karl Knausgards Autobiografie gefiel ihr vieles gar nicht. "Er trinkt auf diesen 800 Seiten ungefähr 18 Hektoliter Tee." (Lachen) Anderes umso mehr: "Wie toll es ist, wenn man vormittags betrunken ist und die einfachsten Dinge zum Abenteuer werden."
    Bis zum letzten Atemzug beinhart blieb Biller, exekutierte Péter Gárdos' "Fieber am Morgen" per Totschlag-Argument. "Totaler Holocaust-Kitsch", und öffnete die Schatztruhe seiner Stammtischweisheiten: "Ich schwör‘ ihnen, kein einziger KZ-Überlebender war ein Engel. So wenig wie wir hier."
    Summa summarum nach dem ersten Quartett: Biller funktioniert, sofern man ihn erträgt – auch wenn er natürlich keine Naturerscheinung im Geistesleben ist wie einst Reich-Ranicki. Westermann dürfte noch kommen, sofern sie ihren bodennahen Humor findet, Weidermann muss den Doppeljob als Moderator und Diskutant fleißig üben.
    Seine Maxime ist aber schon mal richtig. "Kopf hoch."