Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Literatur als stille Post

In "Der Symmetrielehrer" gibt sich der Autor als Übersetzer aus und schiebt als Autor einen Stubengelehrten vor. Ein anarchischer Umgang mit der Sprache und ihren Strukturen ist charakteristisch für Andrej Bitows Roman, in dem er über Liebe, Freiheit und Glück nachdenkt.

Von Jörg Plath | 17.04.2013
    Wenn ein altgedienter avantgardistischer Hase wie Andrej Bitow in den Wald der Literatur hineinruft, dann schallt es gleich auf einigen Hundert Seiten zurück. Einen "Echoroman" hat der Russe mit "Der Symmetrielehrer" vorgelegt. Ach nein: Das Buch stammt, so scheint es, gar nicht von ihm. Bitow will "The Teacher of Symmetrie", so steht es auf der allerersten Seite, nur "aus dem Ausländischen" übersetzt haben. Als Autor des in London "ohne Jahr" verlegten Werkes wird A. Tired-Boffin angegeben. Nun ist der Name dieses Mannes, der sich als "ein müder Stubengelehrter" übersetzen lässt, auch ein Anagramm von Andrej Bitow - sofern man den russischen Namen mit zwei "f" am Ende transkribiert –, weshalb "Der Symmetrielehrer" von Anfang an im Unklaren lässt, wer in ihm eigentlich ruft und wer echot: Der Autor gibt sich als Übersetzer aus und schiebt als Autor einen Stubengelehrten vor, hinter dem sich offenbar niemand anders als er selbst verbirgt.

    Das Vorwort des Echoromans ist eine kleine poetologische Einführung in die Bitowsche Symmetrie und ihre Problematik. Der "Übersetzer" verrät in ihm, dass er in seinen "vorschriftstellerischen Zeiten" während einer langen Expedition Kollegen Geschichten aus einem englischen Buch habe erzählen müssen, die er trotz eines Wörterbuches nur halb verstanden hatte, daher ausschmückte und aufschrieb. Zehn Jahre später habe ein "unglaubliches Erlebnis" die Erinnerung an eine dieser Erzählungen aus dem längst vergessenen Buch geweckt, worüber ihm allerdings zugleich das auslösende "unglaubliche Erlebnis" entfiel.

    Ich stöberte im Kabuff, zwischen zerbrochenen Skiern und Rudern, die hingeschluderte Handschrift meiner "Übersetzung" auf, auch andere Erzählungen aus dem Buch fielen mir ein, und auf diese Weise "wiedergelesen", bemächtigte sich das Buch meiner Phantasie – nun suchte ich danach. Aber mir wollte der Name des Verfassers nicht einfallen! (...) Um das aufdringliche Buch irgendwie loszuwerden (schließlich hatte nicht ich das alles erdacht), fing ich an, es beiläufig zu "übersetzen" (...). Nicht ohne dazuzuerfinden, versteht sich (die etwas schlechteren Stellen gehen auf meine Kappe). Während ich einige der Texte auf diese Weise "übersetzte", vergaß ich endgültig das Original (wie seinerzeit jenes Ereignis aus dem eigenen Leben).

    Literatur also als stille Post, so kraftvoll, dass sie den jeweils letzten Autor, den jeweils letzten Anlass zum Geschichtenerzählen völlig auslöscht.

    Das poetologische Vorwort ist damit keinesfalls zu Ende. Die Geschichten werden zudem in einer Tabelle englischen Zeiten und ihren Modi zugeordnet. Die Novelle "Die Ansicht des Himmels über Troja" (gemeint ist das antike Troja) findet sich unter Past continous, "Die posthumen Papiere des Tristram-Klubs", dessen Mitglieder einander ungeschriebene Romane erzählen, in der Zeit Future in the Past. Allerdings enthält "Der Symmetrielehrer" nicht alle Erzählungen aus der Zeitentabelle. Dazu hat der "Übersetzer" alle ihre Titel geändert und die Zeiten sowieso, seien doch solche grammatikalischen Kuriositäten im Russischen unübersetzbar.

    Diese Freude an Sprachstrukturen bei gleichzeitig anarchischem Umgang mit ihnen prägt die isoliert lesbaren Erzählungen. Kalauer und Scherze, Digressionen und Allusionen jeder Art jagen einander und stehen doch im Dienst eines zu allerlei Rätseln führenden Nachdenkens über die Logik, das Erzählen, die Liebe, die Freiheit und das Glück. Die Gespräche eines Narren namens Gummi mit dem Wissenschaftler Dr. Davin etwa taumeln an der Grenze zwischen Scharf- und Unsinn entlang, am Ende aber erweist sich die etwas ungewöhnliche Angabe des Narren, er stamme vom Mond, als vermutlich wahr – wie sonst hätte sich der Arme fern jedes Turmes oder Luftschiffes so in den Erdboden bohren können, dass jeder Knochen seines Leibes zermalmt ist? Seltsam auch die Novelle über den Mann, der als britischer König seiner französischen Frau zuliebe in Paris lebt und sich dann plötzlich als Text- und Bildredakteur der "Encyclopedia Britannica" entpuppt, der die Vergangenheit nach Kräften umschreibt.

    Es gleitet und schiebt in diesen Geschichten, weil der schlüpfrige Untergrund aus nichts anderem als Sprache besteht – pardon: aus nichts anderem als Sprachen, denn Bitow macht sich die Unterschiede und Bedeutungsverschiebungen zwischen Russisch und Englisch samt den literarischen Referenzsystemen intensiv zunutze und greift notfalls (aber auch ohne Not) ebenso wie die Übersetzerin der Übersetzung Rosemarie Tietze, zu "prosaischen", "bemerkenswerten", "allerspätesten" Anmerkungen. Etwa dieser:

    Unübersetzbares Wortspiel, russ.-engl. (Anm[erkung]. d[es] Ü[bersetzers].). Eine Annäherung in zahmerem Anglodeutsch: "Keinfurzknowhow, knowhowkeinfurz." (Anm[erkung]. d[er]. Ü[bersetzerin der]. Ü[bersetzung].

    So überlagern und überschneiden sich beständig Übersetzung, Übersetzung der Übersetzung, Lesarten – und möglicherweise auch das vergessene Original.

    In den siebziger Jahren entstanden die ersten Erzählungen des "Symmetrielehrers". Der 1937 in Leningrad geborene Bitow schreibt, so Rosemarie Tietze in einer editorischen Nachbemerkung, "im Grunde (...) sein Leben lang einen einzigen Roman". Die ersehnte Symmetrie von Leben und Roman taucht im Buch als Klage des Übersetzersubjekts über das Sujet Russland auf:

    Einfach nicht in den Griff bekomme ich dieses Sujet ... mag sein, weil es russisch ist? (...) In Russland gibt es keine Sujets – nur Weite. Wie es auch keine Sujets gibt im Ozean. Robinson oder Stevenson sind da kein Beweis – Engländer wie wir, setzten sie ihre Sujets auf Inseln aus. (...) Für ein Sujet ist zuallererst der Raum zu schließen. Wie im Theater.

    Russland sei der "Versuch Gottes, die Zeit durch den Raum zu ersetzen", es sei endlos. Der "Übersetzer" muss also die göttliche Unendlichkeit begrenzen. Das ist natürlich ein prinzipiell unendliches Unterfangen – und erweist sich leider zuweilen als rechte Last für Bitows quirlige Witzeleien und gedankenreiche Spaziergänge durch Welten aus Sprache.


    Andrej Bitow: Der Symmetrielehrer.
    Roman. Deutsch von Rosemarie Tietze
    Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2012, 334 Seiten, 26,95 Euro