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Literatur für alle

Für viele gehören sie zur Schulzeit wie Pausenbrot und Hitzefrei: die knallgelben Reclamheftchen mit Werken von Goethe, Schiller und Hölderlin. Die grandiose Idee für billige Klassikerausgaben hatte der Verleger Anton Philipp Reclam 1867. Damals kam ihm der Gedanke, bedeutende Bücher möglichst günstig zu produzieren, um auf diese Weise auch ärmeren Lesern Bildung zu ermöglichen.

Von Maike Albath | 28.06.2007
    "Die Familie Reclam ist eine Hugenottenfamilie, die in der Reformationszeit aus dem katholischen Savoien in das calvinistische Genf und im 17. Jahrhundert nach Deutschland einwanderte. Die französische Hugenottentradition ist in der Familie lebendig geblieben. Meine Vorfahren sind teils reformierte Prediger, teils Kaufleute oder Goldschmiede."

    Der Verleger Heinrich Reclam, Urenkel des Verlagsgründers Anton Philipp Reclam, erinnert sich 1953 an die Herkunft seiner Familie. Große Aufgeschlossenheit legte auch sein Urgroßvater an den Tag. Am 28. Juni 1807 in Leipzig geboren, eröffnete Anton Philipp Reclam mit 21 Jahren dort eine Lesestube mit angeschlossener Leihbibliothek, die das Literarische Museum hieß. In dem kleinen Kabinett konnte man sich in über 70 Zeitungen aus aller Welt vertiefen, deutsche, englische, französische und italienische Neuerscheinungen sichten und nebenbei die politische Lage erörtern. Die Lesestube bot inmitten einer Atmosphäre der Unterdrückung eine Gegenöffentlichkeit. Reclam war ein mutiger Mann, und weil er verbotene Bücher kurzerhand in anderen deutschsprachigen Ländern verbreitete, nannte man ihn "den Schmuggler des Geistes".

    "Mein Urgroßvater war ein leidenschaftlicher Liberaler, was seinem Verlag im Jahre 1846 sogar das Metternichsche Verbot seiner Schriften für Österreich eingebracht hat. In seinem Verlag hatte mein Urgroßvater eine Menge politischer und theologischer Literatur, die heute vergessen ist."

    Der Verlag war kurz nach dem Lesekabinett 1828 gegründet worden. Elf Jahre später richtete sich Reclam eine eigene Druckerei mit Dampfbetrieb ein, damals eine ungeheuer moderne Sache. 183 Beschäftigte hatte das florierende Unternehmen. Mit Spürsinn und Autorität setzte Anton Philipp Reclam seine Entscheidungen durch.

    "Unter meinen Freunden, die ich unter den alten Handwerkern und Markthelfern der Firma hatte, waren einige, die meinen Urgroßvater noch gekannt hatten. Er war ein einsamer und schroffer Mensch, dieser Anton Philipp Reclam, ein unermüdlicher Arbeiter, aber ein unbequemer Vorgesetzter, der von seinen Leuten ebensoviel verlangte, wie von sich selbst. Manch' Liedlein habe ich von den alten Veteranen über ihn pfeifen hören. Aber er ist das eigentliche Genie der Familie gewesen."

    Noch als alter Herr strahlte der Verleger mit seinem langen weißen Bart, der Nickelbrille und den asketischen Gesichtszügen Strenge aus. Er war ein Visionär, und er besaß eine Mission.

    "Sein eigentliches Streben ging auf die Schaffung besonders preiswerter Ausgaben allgemeiner Bildungsliteratur. Das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert des Bildungsstrebens. Man kann sich heute wohl kaum noch vorstellen, wie groß damals das Lesebedürfnis selbst nach schwerer Literatur in allen sozialen Kreisen war. Insofern war auch das Ziel meines Urgroßvaters im Grunde ein soziales."

    Auch für Studenten, Frauen und Handwerker sollte Literatur erschwinglich sein. Um den niedrigen Preis seiner Bücher zu gewährleisten, war Reclam technisch immer auf dem neuesten Stand. Nur bei hohen Auflagen lohnte sich der Druck. Außerdem vertrat er schon damals das bis heute in Verlagen gängige Prinzip der Mischkalkulation: Populäre Unterhaltungsromane mussten die anspruchsvolle Literatur querfinanzieren.

    "Etwas damals Unerhörtes war seine Shakespeare-Ausgabe in zwölf Bänden für nur zweieinhalb Taler. Sein eigentlicher Geniestreich aber ist die Universalbibliothek, die er gemeinsam mit seinem Sohn Hans Heinrich im Jahre 1867 gründete. Mein Urgroßvater war damals bereits ein 60-Jähriger. Die Idee stammt aber von ihm. Gewiss wäre ihm dieses Werk ohne die im Jahre 1867 erfolgte Neuregelung des Urheberrechts nicht möglich gewesen, denn die deutschen Klassiker waren bis dahin ihren Original-Verlagen vorbehalten. Es gehört aber trotzdem eine große Portion Erfahrung und noch mehr Mut zu einem kaufmännisch so neuen Unternehmen. Seine Freunde jedenfalls ließen nichts unversucht, ihn von diesem tollkühnen Plan abzubringen. Und dass dabei wohl auch einige Freundschaften zu Bruch gingen, zeigt der höhnische Spitzname, den man ihm anhing: Groschen-Reclam."

    Goethes Faust war das erste Groschenheft, es folgten Schiller und Ludwig Tieck, später Ibsen, Strindberg, Tolstoi und Turgenjew. Als Anton Philipp Reclam am 5. Januar 1896 starb, war seine Universalbibliothek auf 3500 Titel angewachsen. Mit der zitronengelben Heftchenreihe erfand Reclam einen Klassiker der Verlagsgeschichte.