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Literatur in Zeiten von Flucht und Vertreibung
Was wir von Intellektuellen erwarten

Stellung beziehen, die Wirklichkeit abbilden und Unverständliches erklären: Das erwarten viele Menschen von Autoren und Intellektuellen. Für sie hat Literatur eine politische Aufgabe. Es gibt aber auch Andere, die genau das kritisieren und sich sogar davor fürchten, dass Autoren das Wort ergreifen.

Von Eva-Maria Götz | 07.05.2016
    Leipziger Buchmesse
    Sollte Literatur die Wirklichkeit abbilden? (AFP / Robert Michael)
    "Literatur kann viel tun in Syrien. Als Erstes haben diejenigen, die in der Literatur arbeiten, eine große Verantwortung. Sie müssen mit den Menschen sein, um sie zu verstehen. Sich nicht im Privaten hinter Facebook oder Twitter verstecken, sie müssen mit allen Leuten reden, ihnen zuhören, zuhören, zuhören - dann können sie schreiben. Wir müssen mit den Menschen fühlen."
    Für Colette Bahna, 1961 in Damaskus geboren und seit 1984 als Autorin und Drehbuchschreiberin mit bedeutenden syrischen Literaturpreisen geehrt, hat Literatur eine klare Funktion: Zeitzeugenschaft und Dokumentation. Vom Kampf gegen die Diktatur des Assad-Regimes, den Colette Bahna seit 5 Jahren aktiv kämpft, nimmt sie als Stipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung eine zweimonatige Auszeit. Dann will sie zurück nach Syrien in eine für sie ungewisse Zukunft.
    "Ich kann arbeiten - aber nicht frei. Ich habe meine Wege gefunden, in Sicherheit zu leben und zu arbeiten. Bis jetzt- Gott sei Dank - bin ich okay. Niemand weiß, niemand weiß."
    Ein Kreis schließt sich
    Auch die beiden anderen Autoren auf dem Podium, Sura Alloush aus dem syrischen Homs und Galal Al Ahmady aus dem Jemen, haben erfahren, was es bedeutet, sich in einem repressiven Umfeld zu Wort zu melden, eigene Standpunkte zu entwickeln und damit bereits in der eigenen Familie einen Krieg zu entfachen. Trotzdem darf man nicht nachgeben, meint Al Ahmady und Sura Alloush ergänzt: Schreiben sei für sie auch eine Form der Therapie zur Bewältigung ihrer traumatischen Erfahrungen.
    Damit schließt sich der Kreis zu dem, was Autoren wie Heinrich Böll nach Ende des Zweiten Weltkrieges zum Schreiben trieb. Mehr als 11 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene lebten damals alleine im Westen Deutschlands, und Literatur, so wie die Gruppe 47 sie verstand, hatte sich die Aufgabe gestellt, die Entwicklung hin zur Demokratie durch realistisches Erzählen pädagogisch zu begleiten. Dass sich diese Einstellung in den letzten Jahren gewandelt hat, bedauerte auf dem Podium vor allem der Präsident des deutschen PEN- Zentrums, der Schriftsteller Josef Haslinger:
    "In Wirklichkeit sind die Schriftsteller ja, was politisches Engagement betrifft, in den letzten 25 Jahren eher verschreckt worden. Man hat ihnen ja nach der Wende bedeutet, dass das Politische jetzt gleichsam ausgestanden ist.
    Jetzt ist die Demokratie in ihr Endstadium getreten, wir müssen nicht mehr streiten, es gibt keine Diktatur mehr auf deutschem Boden und damit haben die Schriftsteller kein besonderes Privileg mehr, was politische Meinungen betrifft. Und im Prinzip hat es ja gestimmt."
    Stellung beziehen ist dringend erforderlich
    Mittlerweile aber seien gesellschaftliche Entwicklungen im Gange, die das Stellung-Beziehen von Autoren und Autorinnen dringend erforderlich mache. Es gäbe, so Haslinger, in der Bevölkerung geradezu das Bedürfnis, dass Schriftsteller sich auch politisch zu Wort melden:
    "Sie wollen hören, dass es jemanden gibt, der sich um das Allgemeine der Gesellschaft, um unsere Wertegrundlagen, um grundlegende Vereinbarungen der Demokratie kümmert, letztlich um das Grundgesetz."
    Zurzeit, so herrschte Einmütigkeit auf dem Podium, kämen wichtige Impulse vor allem von denjenigen, die Migration erfahren haben. Josef Haslinger:
    "Sie bringen Realität rein, politische, gesellschaftliche Realität rein, auch ökonomische Realität. Die Realität des Überlebens, die Realität von Ablehnung, von Zurückweisung, alles, was in unserer Gesellschaft ständig passiert, nur wir sind nicht die Betroffenen."
    Zweifel an der Aufgabe der Literatur
    Für den Performancekünstler und Musiker PeterLicht war es allerdings grade die vermeintlich politisch korrekte Einigkeit, die seine Zweifel darüber, ob Literatur eine konkrete politische Aufgabe haben soll, weiter nährten. Die Forderung, dass Kunst irgendetwas "solle", sei grundsätzlich zweifelhaft, wenn auch der dahinterstehende Gedanke der Weltverbesserung ehrenhaft sei. Allein:
    "Die Welt bildet sich grade so ab, dass es überhaupt nicht einig ist. Es gibt 20 Prozent AfD- Wähler. Es ist ein Horror, es gibt keine Einigkeit und hier sitzen wir und sind uns irgendwie einig. Und was heißt, das, wenn Literatur die Wirklichkeit abbildet? Man kommt dann auch ganz schnell an Denkverbote. Will man wirklich jetzt rechte Autoren haben, die jetzt mal richtig loslegen? Möchte ich nicht. Das ist ne Sprachlosigkeit, die sich so bildet."