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Literatur und Geschichte

Geschichten aus Geschichte machen…können Sie mich hören?...Ich hab noch nichts gesagt. (Gelächter)…Bitte schreien Sie, wenn Sie mich nicht hören können, dann schreie ich zurück...

Von Christian Gampert | 15.01.2005
    Was für ein schöner Anfang! Aber die Koketterie täuscht. Die Tübinger Poetik-Dozentur, in den vergangenen Jahren von manchen Autoren nur als Plauderstunde genutzt, bekommt mit Ruth Klüger wieder germanistisches Format. Klüger ging in einem raschen Tour d’Horizon der Frage nach, in welchem Verhältnis Geschichte und Literatur stehen, also: auf welch vielfältige Weise geschichtliches Material für fiktionale Literatur genutzt werden kann.

    - Es soll untersucht werden, inwieweit wir die Fiktion an der Wirklichkeit messen und darüberhinaus, inwiefern wir die Fiktionen an diesem Maßstab der Wirklichkeit bewerten, beurteilen, der ja kein ästhetischer ist. Und es stellt sich heraus, dass unser Urteil so sehr von unseren vorgegebenen historischen Erwartungen beeinflusst ist, dass die ästhetischen Auswirkungen nicht recht von diesen anderen zu trennen sind.

    Es wäre nun für Klüger ein Einfaches gewesen, ihre eigenen Lebenserinnerungen als Beispiel zu nehmen und zu analysieren, ihre Jugend im KZ. Denn auch die Biographie ist ja gestaltete Geschichte – und nicht die Wirklichkeit selbst. Die Germanistin Ruth Klüger will aber nicht auf die in der deutschen Gesellschaft nunmehr beliebte Rolle der KZ-Überlebenden festgelegt werden. Schon in der Pressekonferenz konterte sie entsprechende Fragen mit dem Hinweis, sie gedenke mehr über Schiller als über Hitler zu reden.
    Das tat sie dann auch. Erstes Beispiel in der Vorlesung: ein Geschichts-Drama, "Wilhelm Tell".

    Wenn Schillers Wilhelm Tell bisweilen auf herablassenden Spott stößt, so liegt das nicht daran, weil die Verse schlecht sind; die sind gut, wie Peter von Matt kürzlich ausgeführt hat; sondern weil uns der Patriotismus darin seicht vorkommt. Wir beurteilen das Stück also weitgehend nach seinem Inhalt, und das bedeutet hier: nach unserem eigenen Verhältnis eventuell zum eigenen Vaterland und vielleicht noch mehr nach unserer Erfahrung mit Schweizer Banken und Uhrmachern.

    Die Vorkenntnis, die Erwartung des Publikums, sagt Klüger, sei der entscheidende Faktor, mit dem der Schriftsteller spiele – und den er bestätigen, düpieren, über den Haufen werfen könne, durch seine Freiheit in der Darstellung von Personen und Details.

    Die Autorin eines Romans über die Königin Victoria darf ihr keine Premierministerin aufhalsen, weil es damals noch keine Margaret Thatcher gegeben hat. Aber eine Verbindung von Queen Victoria und der eisernen Lady könnte eine unterhaltsame Satire abgeben, gerade weil die Autorin dem Publikum nicht klarmachen muss, dass die Sache nicht stimmt.

    Dann ein kurzer Ritt durch die Literaturgeschichte: Kleists historisch verbürgter Kohlhaas, Mörikes Mozart-"Andichtung", Thomas Manns durch "demokratische Ironie" gebrochene Goethe-Darstellung in "Lotte in Weimar". Das Phänomen der "historischen Verkleidung" in der DDR-Literatur. Christa Wolfs "Kein Ort nirgends", sagte Klüger, sei in der fiktionalen Zusammenführung von Kleist und der Gründerode allerdings eher die "Ausführung eines Geisteszustands", die Ablehnung der DDR-Gesellschaft. "Die Besetzung stimmt".

    Es stellte sich aber für Klüger sehr schnell heraus, dass die Deutschen in der Prosa Probleme haben mit der Verarbeitung von Geschichte – im Gegensatz dazu stehen die großen Geschichtsromane der englischen, französischen, russischen Literatur. Das Drama dagegen, das explizierte Klüger in ihrer zweiten Vorlesung, sei für die Deutschen das Medium der "Vergangenheitsbewältigung" schlechthin, von Lessing über Goethe zu Hebbel und Grabbe. Das liege auch daran, dass die im Roman schwierige personale Glaubwürdigkeit hier vom Schauspieler zu leisten sei, auch bei Schillers Ersetzung der Religion durch die "Bühne als Besserungsanstalt", Büchners "Verschränkung von Erotik und Geschichte" oder Schnitzlers Ironisierung der Banalität von Geschichte im "Grünen Kakadu".
    Klüger endete vorerst mit den gegenwärtigen filmischen Trivialformen des Geschichtsdramas, dem auch im Fernsehen beliebten "Doku-Drama", das Fakten und Fiktionen bewusst verwische. Das auch in Amerika von Oliver Stone lancierte Genre diene dem Bedürfnis, sich Geschichte genehm zu machen.