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Literatur und Spucke

Gar selten springt einem ein Buch ins Auge, das man lesen muss. Man nimmt es mit auf Reisen, in die Badewanne, auf die Toilette und ins Bett. Stirnrunzelnd fragen sich die Liebsten, welche Saite das geheimnisvolle Werk im sonst so ungerührten Kritikaster zum Schwingen bringt? Es ist – hiermit sei’s bekannt! – die Saite der Erlösung. Erlösung von den schlimmsten Selbstzweifeln, nicht zu wissen, was man tut, und es dennoch tagtäglich zu Lasten Unschuldiger auszuüben: das Richter-, ja das Scharfrichteramt. "Wie man gute Bücher von schlechten unterscheidet", verspricht Hans-Dieter Gelfert in seinem Kompendium Was ist gute Literatur?. Mein Gott, wie lange hat man darauf gewartet! Ein ganzes Berufsleben lang.

Von Florian Felix Weyh | 22.10.2004
    Im Grunde ganz einfach: Man arbeite eine Matrize von 12+1 Kriterien ab, schon gelangt man ans Ziel. Die Kriterien lauten: Vollkommenheit / Stimmigkeit / Expressivität / Welthaltigkeit / Allgemeingültigkeit / Interessantheit / Originalität / Komplexität / Ambiguität / Authentizität / Widerständigkeit und Grenzüberschreitung. Sie machen das Dutzend voll, doch dann lauert da die Nr. 13. Die böse Fee, die das Festmahl in einen Alptraum verwandelt: Kriterium Nr. 13 ist "Das gewisse Etwas". Selbst wenn 12 Kriterien zur besten Zufriedenheit erfüllt worden sind – ein Roman vollkommen, in sich stimmig, nicht flach, sondern expressiv, welthaltig und allgemein gültig, interessant (sprich: spannend), originell, nicht allzu simpel gestrickt, ein wenig doppelbödig, aber ganz authentisch und ein bisschen widerständig ist, dabei in Maßen die Grenzen des Bekannten überschreitet – selbst dann noch muss er "Das gewisse Etwas" mitbringen, um sich über vergleichbare Konkurrenzprodukte zu erheben. "Das gewisse Etwas" ist der Heilige Geist der Kunst. Es lässt sich weder synthetisieren, noch prognostizieren, schwebt über dem Kunstwerk und adelt es zum Meisterstück. Ach Herr, gib mir das gewisse Etwas!

    Und der Herr gab es seinen Schäfchen an den Schreibcomputern. "Daran soll es euch nicht mangeln!", sprach er kichernd, denn er wusste, dass schon Kriterium 1 bis 12 bei zehn unterschiedlichen Lesern zu zehn verschiedenen Ergebnissen führt. Beliebig herausgegriffen die Stimmigkeit: "Letzten Endes ist ein Werk nur dann stimmig", merkt Hans-Dieter Gelfert an, "wenn der verständige Leser es als stimmig empfindet, d. h. wenn er der Stimmigkeitsintention des Autors zustimmt. Das klingt wie ein Wortspiel, beschreibt aber einen theoretisch nicht auflösbaren Sachverhalt."

    Klug erkannt, und so verhält es sich mit fast allen Marksteinen der Literaturbewertung. (Die übrigens nicht minder für andere Künste gelten.) In Zeiten der "sozialen Horizontalisierung", in der die Bildungselite – so überhaupt vorhanden – nicht mehr den Ton angibt, unterliegen auch ästhetische Maßstäbe dem oberflächlichen Urteil des mündigen Massenkonsumenten. Der scheidet Gutes von Schlechtem streng nach Lustprinzip, doch auch dieses – wiewohl vom Autor physiologisch und physikalisch abgesichert (Stichwort: Gute Kunst ist niedrig entropisch, mithin weniger Unruhe auslösend als schlechte) – auch das Lustprinzip basiert auf keinem unveränderlichen Naturgesetz. Genügte vor 150 Jahren eine entblößte Wade, um wahre Konvulsionen an erotischer Befriedigungslust auszulösen, tut es heute nicht mal mehr der ganze Frauenleib. Sprengte man vor 100 Jahren noch mit einer einzigen verrutschten Verszeile die lyrische Konvention (und erledigte vier Kriterien auf einen Streich, nämlich Interessantheit, Originalität, Widerständigkeit und Grenzüberschreitung), muss man heute beim Kunstbluff schon ordentlich hinlangen. Genau der, der Kunstbluff, ist Gelfert ein Dorn im Auge, ohne freilich sagen zu können, was man ihm entgegensetzen soll.

    Wenn der Anglistikprofessor a.D. die deutsche Literatur in Beziehung zur realismusgeprägten angloamerikanischen setzt, die dem Kriterium Komplexität einen geringen Stellenwert einräumt, merkt man ihm seinen resignierten Fatalismus an, denn die Vorliebe fürs Geradlinige teilt Gelfert mit nur wenigen Angehörigen des Literaturbetriebs. Für die Kritik hierzulande sind Widerständigkeit und Komplexität die Königskriterien. Ein Buch muss seinen Leser anspucken und ihm ins Gesicht schreien: "Du bist zu blöd, mich zu verstehen!" – dann ist es wirklich gut! Hans-Dieter Gelfert bewertet Literatur herzhaft anders, aber natürlich genauso subjektiv und an entscheidenden Stellen ebenso begründungslos wie seine Kollegen.

    Die Differenz von Mensch zu Mensch lässt sich theoretisch eben nicht erfassen, sie existiert ganz einfach. Das Buch selbst ist übrigens ein gutes – aber das zählt nicht. Es handelt sich, wie der Autor vorauseilend feststellt, um "expositorische" Literatur, sprich: um einen Sachtext. Der kann falsch oder richtig sein, unterliegt aber keinen künstlerischen Kriterien. Zur Freude seiner Leser irrt der Autor auch mit dieser apodiktischen Behauptung, denn "Was ist gute Literatur?" lässt sich nicht als falsch oder richtig bezeichnen. Einerseits enthält das Buch etliche streitbare Geschmacksurteile, andererseits führt es in vivo vor, wie vergeblich alle Müh des Systematisierens bleiben muss, und das ist zweifelsfrei eine wahre Botschaft, denn seit mindestens 100 Jahren bewegt sich Literaturbewertung im regelfreier Raum. Glauben Sie niemandem, der etwas anderes behauptet! Er wär ein Wunderdoktor, mithin ein Scharlatan.


    Hans-Dieter Gelfert
    Was ist gute Literatur?
    Beck’sche Reihe, 220 S., EUR 12,90