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Literaturfestival "lit:Potsdam"
Eine Realität, mehrere Wahrheiten

Das noch junge Literaturfestival "lit:Potsdam" hatte mit Juli Zeh, Hans Magnus Enzensberger und Frank-Walter Steinmeier prominente Namen im Programm. Die Veranstaltung zeigte: Die langsame, kompromissreiche literarische Auseinandersetzung verrät manchmal mehr über die Realität als diplomatische Lageberichte und journalistische Schlagzeilen.

Von Cornelius Wüllenkemper | 25.08.2014
    Hans Magnus Enzensberger, Portrait, lächelnd von der Seite
    Der Selbstdenker und Skeptiker Enzensberger überraschte sein Publikum mit dem Hinweis, ihm fehle eigentlich eine der wichtigsten Ressourcen für ein Schriftstellerleben: nämlich eine unglückliche Kindheit. (dpa/picture alliance/Andreas Gebert)
    Eine Eröffnungsveranstaltung mit dem sonst äußerst öffentlichkeitsscheuen Verleger, Dichter, Essayist und Romancier Hans Magnus Enzensberger - das ist für ein privates Festival, das in zweiter Auflage noch in den Kinderschuhen steckt, ein gelungener Coup. Der Selbstdenker und Skeptiker Enzensberger überraschte sein Publikum mit dem Hinweis, ihm fehle eigentlich eine der wichtigsten Ressource für ein Schriftstellerleben: nämlich eine unglückliche Kindheit. Aus der Hitlerjugend wurde der heute 84-Jährige aus Schwaben wegen Desinteresse feierlich entlassen. Vereine, Hierarchien und Befehle seien ihm bis heute ein Gräuel. In seinem jüngsten Buch "Herrn Zetts Betrachtungen", in dem ein mysteriöser Gelehrter täglich Zuhörer in einem Stadtpark um sich versammelt, kann man dieses selbstbestimmte Freidenkertum noch einmal nachlesen.
    "Mit dem Herrn Zett ist es so: Man hat natürlich keine große Lust, immer man selbst zu sein. Das betrifft ja auch einen Schriftsteller. Diese Obsession, die eigene Identität, nach der immer zu suchen, das ist doch unerfreulich. Die eigenen Gedanken kennt man ja schon ein bisschen, also braucht man einen anderen. Und als Schriftsteller muss man sich den selbst basteln. Diesen sonderbaren Typen, von dem man auch nicht genau weiß, was er eigentlich ist. Ist er jetzt ein Weiser? Ist er ein Schwätzer? Ist er ein Clown? Ist er ein Sokrates?"
    Geistreicher und intellektuell anregender Auftakt
    Enzensbergers Herr Zett mischt sich ein in politische, gesellschaftliche oder philosophische Fragen. Und das nicht ohne den Hinweis, dass er seine Meinungen wechsle wie seine Unterwäsche. Das sei immerhin eine Frage der Hygiene. Mit diesem ebenso geistreichen wie intellektuell anregenden Auftakt war die Messlatte der lit:Potsdam gelegt. Die Romanautorin, Essayistin, Ein- und Aufmischerin Juli Zeh las vorab aus ihrer Essaysammlung "Nachts sind das Tiere". Da geht es um Schwangerschaft, Reiseerlebnisse, Demokratie, Freiheit und natürlich das Internet. Juli Zeh hat bereits zwei offene Briefe an Bundeskanzlerin Merkel gerichtet, in denen sie eine Internet-Strategie der Bundesregierung einfordert. Zweifel an ihrer Meinungskompetenz oder gar ihrer Legitimation, sich zu jedem aktuellen Thema öffentlich zu äußern, weist sie von sich.
    "Haben Schriftsteller mehr Ahnung oder sind sie das moralische Gewissen oder sind sie die Diskursinstanz der Gesellschaft? Das sind Fragen, die habe ich mir ehrlich gesagt überhaupt nicht gestellt. Ich habe bis heute den Eindruck, dass jeder Mensch die Möglichkeit und die Erlaubnis hat, seine Meinung zu äußern. Das ist ja der Grund dafür, dass wir dieses komplizierte System hier so gut wir können betreiben. Mit dieser Denkweise, man bräuchte entweder ein Expertentum, oder eine Art von Weihe in irgendeiner Form, moralisch, religiös oder politisch, hatte ich immer Schwierigkeiten."
    Mehr Event als Diskussion
    Das Reden sei die Suppe, auf dessen Fettauge die aktive Politik schwimme, so Juli Zeh. Zeitgeist, Mentalität und Bewusstsein, das seien Denkräume, auf die Schriftsteller Einfluss nehmen könnten. Auf politischer Ebene gebe es allen Unkenrufen zum Trotz durchaus ein Bewusstsein für das, was die Gesellschaft an Stimmungen und Meinungen ventiliere. Bleibt noch die Frage, ob da nicht die Grenze zwischen Reflektion und wahllosem Einmischen zu sehr verwischt. Außenminister Frank-Walter Steinmeier formulierte im Gespräch mit der dänischen Autorin Janne Teller seine Gedanken zum Verhältnis von Literatur und Politik. Die Literatur könne die verschiedenen Wahrheiten einer einzigen Realität beschreiben, so der Außenminister.
    "Das kann man vielleicht kaum deutlicher darstellen, als bei den völlig unterschiedlichen Perzeptionen des Ost-Ukraine-Konfliktes, aus ukrainischer Perspektive oder aus russischer Perspektive. All dem liegt etwas voraus: das Verstehen von Konflikten. Und wenn ich sage Verstehen von Konflikten, meint es nicht Einverständnis mit den Konfliktpartnern. Das muss man versuchen zu begreifen. Und das findet sich eben häufig nicht in den Drahtberichten von Diplomaten."
    Auch wenn sich so manche Veranstaltung der lit:Potsdam auf den klingenden Namen der Beteiligten zurückzuziehen schien und zum Teil mehr einem literarischen Event als einer Diskussion ähnelte, wurde eines deutlich: Die langsame, kompromissreiche literarische Auseinandersetzung verrät manchmal mehr über die Realität als diplomatische Lageberichte und journalistische Schlagzeilen.