Freitag, 29. März 2024

Archiv

Literaturhistoriker Franco Moretti
Lesen aus der Entfernung

Das neueste Buch des Literaturhistorikers Franco Moretti heißt wie die darin formulierte Theorie: "Distant Reading". Es geht um die Frage, wie riesige Mengen von Texten mit formalisierten und rechnergestützten Techniken und Methoden erforscht werden können. Herausgekommen ist ein durchaus lesenswertes Forschungsabenteuer.

Von Martin Zähringer | 15.11.2016
    Ein Buch liegt auf einem Scanner.
    Franco Moretti über sein Buch: "Das funktioniert wirklich wie ein Logbuch, ein Journal, das meinen Weg zu den digital Humanities illustriert", also zu den digitalen Humanwissenschaften. (picture alliance / dpa)
    Der Literaturhistoriker Franco Moretti hält den sogenannten Literaturkanon für eine zu bequeme Einrichtung und hat sich nie gescheut, das Unbekannte in der Literatur zu suchen. Grundsätzlich gilt für Moretti, dass Literatur der ästhetische Schlüssel zur Wirklichkeit ist, also erforscht er Literatur zugleich mit dieser Wirklichkeit: literarische Analyse geht einher mit Geografie und Evolutionstheorie, mit Theorien der Globalisierung und mit der Netzwerktheorie, die komplexe Handlungsstrukturen sichtbar macht. Das Besondere dabei ist, dass Moretti sich nie völlig auf ein System festlegt. Er testet, erweitert und passt seine Methoden und Ansätze an veränderte Situationen an. Im hier vorliegenden Buch "Distant Reading" publiziert Franco Moretti zehn Forschungsberichte aus den Jahren 1994 bis 2011. Sie werden vom Autor rückblickend kommentiert, in Beziehung zueinander gesetzt und selbstkritisch diskutiert. Im Interview am Wissenschaftskolleg Berlin erklärt Moretti den Zweck des Buches so:
    "Das funktioniert wirklich wie ein Logbuch, ein Journal, das meinen Weg zu den digital Humanities illustriert. Dieser Weg beginnt mit dem Interesse an Geografie, weil ich aus der Vergleichenden Literaturwissenschaft komme, die ja eine über das Nationale hinausgehende geografische Komponente aufweisen muss."
    Historische Wandlungen der literarischen Formen
    Moretti beginnt mit Europa als Zentrum, das der Komparatist Curtius noch in einer einheitlichen Literatur des Lateinischen begreifen konnte. Aus diesem kulturgeografischen Raum der Romania heraus verfolgt Moretti die historischen Wandlungen der literarischen Formen, vor allem des Trauerspiels und des Romans. Entscheidend sei der Bruch der europäischen Einheit im 16. Jahrhundert, als sich mit der Stärkung der Nationalstaaten auch die Nationalsprachen emanzipieren. Gleichzeitig verändert sich mit der beginnenden Globalisierung die geografische Situation, und da literarische Formen für Moretti auch ein Ausdruck politischer Macht sind, erforscht er die Gesetzmäßigkeiten der neuen Weltliteratur zugleich mit den politischen Formen des neuen Weltsystems.
    So viel zur Makroebene, auf der Moretti allerdings die konventionellen Bahnen der postkolonialen Theoriebildung immer wieder verlässt. So versucht er etwa, die inneren Gesetzmäßigkeiten der Literaturgeschichte mithilfe der Evolutionstheorie zu erfassen, die Entwicklung der Nationalliteraturen also in einem "Ökosystem der europäischen Literatur". Und da es immer um große Textmengen geht, entsteht eine besondere Form des Lesens:
    "Distant Reading, ein Lesen aus der Entfernung, wobei die Entfernung eine Bedingung der Erkenntnis ist. Sie gestattet es, Einheiten in den Blick zu nehmen, die sehr viel kleiner oder auch größer sind als der Text: Kunstgriffe, Themen, Tropen - oder Gattungen und Systeme. Und falls einmal der Text selbst zwischen dem sehr Kleinen und dem sehr Großen verschwinden sollte, so ist das einer der Fälle, in dem man mit Berechtigung sagen kann, dass weniger mehr ist."
    Es kommt auf die Form an
    Im Großen wie im Kleinen, es ist für Moretti immer die Form, auf die es ankommt. Auf der Mikroebene des Romans findet er dann dynamische Perspektiven wie die Folgende. Am Anfang steht die stilistische Verortung von zwei großen Autoren des Kanons:
    "James Joyce und Franz Kafka, die beiden größten Erneuerer des Romans im 20. Jahrhundert. Sie kennen sich nicht, obwohl sie tatsächlich ihre Meisterwerke in genau denselben Monaten zu schreiben beginnen. Aber dann entscheidet sich der 'Ulysses' lautstark für die Freiheit der Polyphonie, während 'Der Prozess' die Geschichte eines geheimen, monologischen Gesetzes erzählt. Auf der einen Seite die alles verschlingende Euphorie des Bewusstseinsstroms, auf der anderen die behutsame Subtilität der Schriftauslegung."
    Aber beim Kanon bleibt die Analyse nicht stehen, denn diese Autoren führen in neue Räume, in diesem Fall in die Großstadt. Also geraten auch all die großstädtischen Genres ins Bild, die den Literaturmarkt und unsere modernen Autoren von Dickens bis Poe, von Flaubert bis zu Henry James beeinflusst haben. Kanon trifft auf Massenliteratur, also müsse man als Literaturforscher "den Stil von Groschenromanen zum grundlegenden Untersuchungsgegenstand machen und den von Henry James zum unwahrscheinlichen Nebenprodukt erklären: So sollte eine Theorie der Prosa verfahren - weil so die Geschichte verfahren ist. Nicht andersherum."
    Eine weitere Herausforderung der Konventionen ist Morettis Entdeckung der verworfenen Literatur. Er schreibt in seinem berühmten Aufsatz über Formenwandlungen im Detektivroman mit dem Titel "Die Schlachtbank der Literatur", Nummer drei des Sammelbandes:
    "Die Weltgeschichte ist die Schlachtbank der Menschheit, lautet eine berühmte Sequenz von Hegel - und der Literatur. Die meisten Bücher verschwinden für immer in der Versenkung - und eigentlich trifft auch 'die meisten' die Sache nicht."
    Laut Moretti wurden 99 Prozent aller Bücher vergessen
    Es sind laut Moretti sogar 99 Prozent aller Bücher, die vergessen wurden: "The great unread", also die vielen Ungelesenen, wie er seine Kollegin Margaret Cohen zitiert. Fasziniert sind immer mehr Wissenschaftler vom riesigen Fundus, der da ungelesen schlummert, aber wie soll man ihn erkunden? Lesen im herkömmlichen Sinn geht nicht, es sind Millionen Texte. Das "Close Reading", also das wiederholte Lesen, Übersetzen und Interpretieren eines ausgewählten Kanons ist hier nicht mehr praktikabel. Moretti schreibt:
    "Wenn man über den Kanon hinausblicken will, wird das Close Reading nicht ausreichen. Es ist nicht darauf ausgelegt, es ist auf das Gegenteil ausgelegt. Im Grunde genommen ist es ein theologisches Exerzitium - ein sehr weihevoller Umgang mit sehr wenigen Texten, die sehr ernst genommen werden -, wohingegen wir eigentlich eher einen kleinen Pakt mit dem Teufel brauchen: Wir wissen, wie man Texte liest, jetzt sollten wir lernen, wie man sie nicht liest."
    Das Nicht-mehr-Lesen betrifft aber nicht uns, sondern die Forscher im Literaturlaboratorium von Franco Moretti, das er mit Kollegen in Stanford gegründet hat. Dort warten 200.000 digitalisierte Romane auf ihre Erschließung, dort wird Distant Reading jetzt zu Digital Reading. Die Arbeit mit den Algorithmen werden sie demnächst in einem anderen Buch vorstellen.
    In diesem Sammelband "Distant Reading" folgt man einem Literaturhistoriker, der die statistischen Gesetze von Baum und Welle in Nationalliteratur und Weltliteratur entdeckt, der Hamlet, Macbeth und den chinesischen 3.000-Seiten Roman "Traum der Roten Kammer" mit Netzwerkdiagrammen erschließt; der Samplings und Statistiken lesen muss, Verlagsbilanzen und Feuilletonarchive, Register und Kundenbücher von Leihbibliotheken. Und der dabei zeigt, wie man ohne Scheuklappen neue Methoden in einer Welt der Literatur findet, die sich stetig verändert. Es ist ein durchaus lesenswertes Forschungsabenteuer.