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Literaturnobelpreis an Kazuo Ishiguro
Beeindruckende Eleganz des Schreibens

Die Literatur Kazuo Ishiguros sei extrem geglückt, sagte der Leiter der Literaturredaktion der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", Andreas Platthaus, im Dlf. Ihn beeindrucke die Eleganz des Schreibens. Es habe ihn "glücklich überrascht", dass Ishiguro und nicht der Japaner Haruki Murakami den Literaturnobelpreis erhalte.

Andreas Platthaus im Gespräch mit Hubert Winkels | 05.10.2017
    Der Journalist Andreas Platthaus
    Der Journalist Andreas Platthaus (imago/Horst Galuschka)
    Hubert Winkels: Das war die Stimme von Sara Danius, der ständigen Sekretärin der Schwedischen Akademie, die heute Mittag Punkt 13 Uhr bekannt gegeben hat, dass der Nobelpreisträger für Literatur 2017 Kazuo Ishiguro heißt. Viele große Namen hat sie aufgerufen, um das Gewicht des in Nagasaki geborenen und schon als Kind mit seinen Eltern nach England gezogenen Erzähler Kazuo Ishiguro zu bezeichnen – Jane Austen, Kafka und ein bisschen Proust, wie bei einem kulturellen Upperclass-Cocktail. Ich begrüße jetzt am Telefon den Leiter der Literaturredaktion der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", Andreas Platthaus, der die japanische Kultur im Allgemeinen und Kazuo Ishiguro im Besonderen schätzt. Guten Tag, Herr Platthaus! Bevor wir auf diese gewaltige europäische Tradition zu sprechen kommen, die hier aufgeboten wird, zunächst eine biografisch näherliegende Frage: Kazuo Ishiguro lebt seit rund sechs Jahrzehnten in England, er schreibt auf Englisch, wie stark ist die japanische Herkunftswelt, die japanische kulturelle Prägung in seiner Literatur noch spürbar?
    Andreas Platthaus: Das ist für die neueren Bücher, finde ich, nur in Fragen der Eleganz und in gewisser Weise auch der sehr vornehmen Zurückhaltung zu beantworten, da ist Ishiguro ein wirklicher Meister. Aber damit steht er natürlich auch in einer spezifisch britischen Tradition, da spielen sich Japanisches und Britisches durchaus noch in die Hände. Wenn wir aber an seine Anfänge denken, an die ersten beiden Romane, die beide in gewisser Weise ihren Schwerpunkt in Japan hatten, obwohl auch da schon über die Grenzen ausgegriffen wurde. Also bei "Damals in Nagasaki" erzählt eine nach England ausgewanderte Japanerin über ihr Leben beim Atombombenangriff 1945 auf ihre Heimatstadt. Dann sind die Themen, mit denen Ishiguro begonnen hat, genuin japanische gewesen und geprägt von dem Zwiespalt zwischen den beiden Welten, in denen er aufgewachsen ist. Aber heute, würde ich sagen, ist er einer der britischsten Autoren, die wir uns überhaupt vorstellen können.
    Winkels: Bevor wir auf diese Wandlung zu sprechen kommen, kann man sagen, dass in den ersten Romanen zumindest ein fast schon freudianisches Modell zu finden ist, der tiefen Verletzung in frühen Zeiten und ein Roman, der diese Verletzung rekonstruiert, der in der Erinnerung oder in der Reise zurückgeht an den Ort dieser Traumatisierung?
    Platthaus: Die Frage stellen heißt, sie beantworten, und zwar mit Ja. Natürlich ist dem so. Man merkt unbedingt, dass da der japanische Einfluss noch ein ganz wichtiger ist, dass die leicht autobiografischen Elemente, die über das Familienschicksal von Kazuo Ishiguro da eine Rolle spielen – die sind ja nicht umsonst 1960 aus Japan nach England gegangen –, dass das Fragen sind, die ihn immens beschäftigt haben. Aber davon hat er sich dann mit "The Remains of the Day", also "Was vom Tage übrig bleibt" so radikal gelöst und ein genuin britisches Thema als Thema des dritten Romans angeschlagen, dass er sich aus dieser freudianischen Bewältigung blendend herausgelöst hat – oder man kann sagen, sie hat fantastisch funktioniert.
    "An Aktualität kaum zu überbieten"
    Winkels: Sie sagen uns jetzt sicher, was "Was vom Tage übrig blieb" bedeutet, worum es geht, aber vielleicht vorher – Sie haben es angedeutet –, der britischste aller britischen Autoren kommt aus Japan. Wie konnte das passieren?
    Platthaus: Passieren konnte es, dass er 1960 mit seiner Familie, also als Fünfjähriger, nach Großbritannien gekommen ist. Das ist für niemanden wirklich überraschend, der die Lage in Japan damals beurteilen konnte, denn das ist ein Land gewesen, was damals noch nicht so weit wiederaufgebaut und so prosperierend war wie beispielsweise die Bundesrepublik zum selben Zeitpunkt. Die Familie von Ishiguro war allerdings auch schon immer eine, die internationaler orientiert war, also keine, die ganz auf der japanischen Tradition des nur auf die Insel bezogenen Daseins herauskommt. Und die Familie ist einfach nach London ausgewandert, dort ist Ishiguro zur Schule gegangen, hat studiert, also er ist – mit fünf nicht anders zu erwarten – dann wirklich auch als Brite aufgewachsen, und dementsprechend hat er dann doch wiederum eine solche Weltoffenheit sich damit erworben, dass das natürlich in einem ehemaligen Kolonialreich wie dem britischen geradezu prototypisch blendend funktioniert hat.
    Winkels: "Was vom Tage übrig blieb", viele kennen es, die meisten kennen vielleicht sogar nur das als Stoff, auch über die Verfilmung möglicherweise – sehr britisch von der Anlage, der Stoff, worum geht es da?
    Platthaus: Es geht in gewisser Weise um ein wirkliches Thema, was man fast mit dem, was eben die Sekretärin der Akademie Jane-Austen-artig nannte, beschreiben könnte, nämlich es geht um einen britischen Landsitz, zumindest ganz zentral als Handlungsort, und es geht darum, wie Großbritannien und vor allem die Menschen in Großbritannien vor dem Zweiten Weltkrieg und im Zweiten Weltkrieg gelebt und gedacht haben, wie Strategie gegen die Deutschen entwickelt wurde. Das Ganze wird rückblickend erzählt, aus einer Perspektive aus der Mitte der 50er-Jahre, und es ist schon faszinierend, inwieweit Kazuo Ishiguro es da geglückt ist, eine Art Unzuverlässigkeit des Erinnerns und ein Immer-wieder-auch-sich-Widersprechen einzubauen – und das in einem Roman, der 1989 erschienen ist, also just in dem Jahr, wo alle unsere historischen Gewissheiten umgeworfen worden sind. Das ist eine bemerkenswerte Koinzidenz gewesen oder wahrscheinlich dann doch ein tiefes literarisches Gespür für die unmittelbaren Zeitereignisse in Europa, obwohl sie keine Rolle spielen. Aber dieser Roman kam in seinem skeptischen Blick auf alles das, was Erinnerung und Überlieferung heißt, genau zum richtigen Zeitpunkt.
    Winkels: Dann könnte man sagen, er bleibt sehr englisch, wenn er mit "Alles, was wir geben mussten", einem weiteren Roman, man könnte sagen das Genre des Internatsromans bedient, aber im Grunde vollzieht er in diesem Roman nochmals eine Wendung in ein anderes Genre.
    Platthaus: Ja, er nimmt da Science-Fiction-Elemente auf. Das Bemerkenswerte an diesem Buch ist eine Art in der nahen Zukunft angesiedeltes dystopisches Gesellschaftsmodell. Die Haupthandlung dreht sich darum, dass junge Menschen dort in einem Internat zusammenleben, und das sind alles geklonte Menschen, die nur darauf warten müssen und deren Lebensspanne daran bemessen ist, inwieweit die Menschen, von denen sie geklont sind, irgendwann einmal Bedarf haben, neue Organe zu bekommen oder auch Körperteile. Und in dem Moment, wo Bedarf besteht, weil jemand von den ursprünglichen Menschen erkrankt oder sonst irgendwie Probleme hat, einen Unfall hat, werden diesen Menschen die entsprechenden Organe entnommen oder Glieder amputiert, und gegebenenfalls ist damit natürlich auch der Tod verbunden. Das war gerade 2005, als das Buch erschien und als wir mit dem Klonen natürlich noch nicht so weit waren wie heute, eine erstaunliche Zukunftsvision, ein extrem deprimierende, aber eine, von der man auch sagen muss, dass sie an Aktualität natürlich auch kaum zu überbieten war, allein deshalb, wenn wir an den illegalen Organhandel rund um die Welt denken. Hier ist es nur ganz konsequent mit den technischen Möglichkeiten, die wir mittlerweile ja fast besitzen, zu Ende gedacht.
    "Er hat so viel zu bieten wie ganz wenige moderne Erzähler"
    Winkels: Jedenfalls kann die Akademie hier an dieser Stelle nicht an Proust gedacht haben und von Proust auf unseren Nobelpreisträger schließen. Wenn wir schon Proust erwähnen, Teil des Cocktails, der gemeint ist, was lieben eigentlich die Leser und die Kritiker, muss man ja sagen, und zwar Millionen Leser, auf der ganzen Welt an diesen Geschichten? Es muss ja mit der Schreibweise zu tun haben, mit dem Verhältnis zum Erzählten in der Sprache, in der Konstruktion, in der Dramaturgie. Kann man da etwas Spezifisches benennen für Kazuo Ishiguro?
    Platthaus: Das ist schwer zu sagen, und ich würde wie so ziemlich bei jeder wirklich geglückten Literatur – und ich persönlich halte Kazuo Ishiguros Literatur für extrem geglückt – dann nur individuell darauf antworten können. Ich kann schlecht für Millionen sprechen. Aber ich glaube, dass auch ganz viele verschiedene Aspekte aus seinem Schreiben heraus als attraktiv betrachtet werden können. Aber was mich beeindruckt, ist die Eleganz des Schreibens, das unglaubliche Formbewusstsein, was er hat, das Spiel mit den verschiedenen Möglichkeiten. Gerade in seinem letzten Buch "Der begrabene Riese" gibt es immer wieder einen durch Fußnoten in die eigentliche Handlung hinein regierenden und agierenden Erzähler, der alles das wieder neu infrage stellt, was da berichtet wird. Das Ganze ist ganz tief in der englischen Geschichte im angelsächsischen Bereich um die Artus-Sage herum angesiedelt. Die Breite auch der Themen ist sicherlich etwas, was Kazuo Ishiguro bemerkenswert macht, weil man nie sicher sein kann, welchen Themen er sich zuwenden wird. Im Moment würde ich nur sagen, die einzige Konstante, die sich seit 1989 herausgebildet hat, ist, dass das alles konsequent in England und mit der englischen Geschichte verbunden ist. Und dementsprechend würde ich die Eleganz, das Formbewusstsein als das, was mir am allerbesten an ihm gefällt, nennen, aber inhaltlich hat er so viel zu bieten wie ganz wenige moderne Erzähler, weil er über das Formale das Inhaltliche nie vernachlässigt hat.
    Winkels: Sie kennen die japanische Tradition sehr gut, auch die japanische Traditionsliebe, wer, glauben Sie, freut sich mehr über den Nobelpreis, die Japaner oder Engländer heute?
    Platthaus: Man muss ganz ehrlich sagen, die Engländer werden sich unglaublich darüber freuen, und die Japaner werden sich nicht so sehr darüber freuen, sie werden es sehr höflich und auch sicherlich in irgendeiner Weise erfreut zur Kenntnis nehmen, aber für jemanden, der in Japan lebt, ist die Vorstellung, dass ein Landsmann, der in jungen Jahren woanders hingeht, dann mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wird, doch keine so erfreuliche. Und man muss ja auch sagen, dass mit Haruki Murakami ein anderer ganz heißer Favorit seit Jahren auf der Liste der Wettbüros ganz oben stand. Dem wird der Weg zum Nobelpreis jetzt sicherlich wieder mal ein paar Jahre lang verbaut sein.
    Winkels: Was denken Sie genau darüber und wie gefällt Ihnen die Entscheidung allgemein?
    Platthaus: Darüber, dass Murakami nicht ausgezeichnet worden ist, bin ich nicht glücklich, aber Kazuo Ishiguro scheint mir tatsächlich die noch interessantere Wahl. Deshalb bin ich ganz besonders zufrieden mit dieser Entscheidung, denn es ist der etwas weniger spektakuläre und auch vielleicht ein bisschen weniger erfolgreiche – im Weltmaßstab – Autor von den beiden mit großen japanischen Namen, und er ist natürlich auch derjenige, der uns über mittlerweile seine europäische Betrachtungsweise einfach viel näherliegt in dem, was wir gewohnt sind, an Literatur zu lesen. Und das macht es uns einfacher, als Murakami es bisweilen macht, so sehr der auch von westlichen Traditionen geprägt ist. Deshalb bin ich extrem glücklich über diese Überraschung, und das war sie für mich ganz entschieden. Ich hatte Ishiguro überhaupt nicht auf der Rechnung, aber literarisch betrachtet ist das für mich die konsequentere Wahl, als Murakami gewesen wäre.
    Winkels: Ein schönes letztes Wort, vielen Dank Andreas Platthaus für dieses instruktive Gespräch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.