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Literaturwissenschaft
Die Polen und ihre Vampire

Die polnische Literaturwissenschaftlerin Maria Janion ist in Deutschland weitgehend unbekannt - und das, obwohl sie mit "Die Polen und ihre Vampire" ein brillantes Werk geschaffen hat. Sie beleuchtet die großen polnischen Themen und Autoren so, wie es nur wirklich große Geister wagen: Ohne Angst vor Konflikten mit dem jeweils herrschenden intellektuellen Mainstream und ohne übergroßen Respekt vor den großen Namen und Traditionen ihres eigenen Landes.

Von Uli Hufen | 15.05.2015
    Der Hauptdarsteller des Musicals "Tanz der Vampire", Felix Martin, posiert in Hamburg.
    Maria Janion beleuchtet die großen polnischen Themen und Autoren so, wie es nur wirklich große Geister wagen. (picture alliance / dpa)
    87 Jahre alt musste die polnische Literaturwissenschaftlerin Maria Janion werden, bevor die verehrten Nachbarn in Deutschland auf die Idee kamen, zumindest einen Sammelband mit einigen ihrer zentralen Texte zu publizieren. Wie ein so beschämender Fall von Ignoranz und Desinteresse möglich war, muss an anderer Stelle geklärt werden. Hier soll es allein darum gehen, den Band "Die Polen und ihre Vampire" vorzustellen und zu feiern. Besser spät als nie!
    Denn dass dem breiten deutschen Publikum nun endlich eine so offensichtlich bedeutende, ja legendäre Autorin wie Maria Janion entdeckt wird, ist schlicht und ergreifend eine helle Freude. Vergleiche hinken ja wie bekannt, aber Maria Janions Rang in Polen und die Qualität ihrer jahrzehntelangen Forschungsarbeit stehen der von Geistesgrößen wie Susan Sonntag in den USA, Michail Lotman in Russland oder Michel Foucault in Frankreich nicht nach. Und schreiben konnte Maria Janion auch. Schon die ersten Sätze des titelgebenden Aufsatzes geben davon eine gute Vorstellung:
    "Die Geschicke der Polen und ihrer Untoten, insbesondere der Vampire, sind eng miteinander verbunden. Zu diesem Satz habe ich mich nicht im Eifer zugespitzten Formulierens hinreißen lassen, denn schließlich hat sich der vorchristliche slawische Gespenster- und Vampirglaube bemerkenswert lange gehalten."
    Von diesem effektvollen Auftakt, keineswegs zufällig frei von jedem wissenschaftlichen Jargon, braucht Maria Janion noch genau zwei Sätze bis zu Polens Nationalschriftsteller Adam Mickiewicz. In dessen Hauptwerk, dem Dramenzyklus "Ahnenfeier", findet sie folgenden erstaunlichen Gesang:
    "Mein Gesang war schon im Grabe, war schon kalt,-
    Als es Blut gewittert - mehr noch lechzt nach Blut,
    Und steht auf in eines Vampirs Ungestalt:
    Und verlangt nach Blut, nach Blut, nach Blut.
    Sei's mit Gott, sei's ohne Gott gemeint -/
    Rache, Rache, Rache an dem Feind!"
    Ungestalt eines Vampirs
    Die erstaunliche Passage entstammt dem 3. Teil der Ahnenfeier, die Mickiewicz 1832 schrieb, kurz nach der Niederschlagung des sogenannten Novemberaufstandes gegen die russische Fremdherrschaft. Der Held Konrad, ein junger Dichter, sitzt in einem zaristischen Gefängnis ein, träumt von der Befreiung seiner Nation, hadert mit Gott, der die Fremdherrschaft zulässt, und schwört Rache. Soweit so verständlich. Aber warum ersteht der Gesang des rachsüchtigen jungen Dichters in der "Ungestalt eines Vampirs" auf? Den Schlüssel zu diesem Rätsel findet Janion in der vorchristlichen slawischen Volksmythologie. Sie skizziert die Entstehung von Vampirmythen bei den Slawen und zeigt dann, warum Mickiewicz auf altslawischem Ahnenkult und Vampirglauben zurückgreift, um seine Landsleute zum Widerstand gegen die Fremdherrschaft aufzurufen.
    Der Vampir bei Mickiewicz ist nicht der sanftmütige Geist eines liebenden Selbstmörders, sondern ein urtümlicher, blutrünstiger Vampir der patriotischen Rache. Kein Geist, kein Besessener, sondern die dunkle Seite des Dichters, der weiß, dass die russischen Okkupanten mit Reimen nicht zu schlagen sind, und darum bereit ist, sich selbst und auch seine Kunst zu opfern. Wobei der Vampir einerseits ein idealer Rebell ist, andererseits aber auch vor einem großen Problem steht:
    "Wer vom Vampir gebissen wurde, muss seinerseits zum Vampir werden. So lässt sich geschickt eine Zwangsgemeinschaft vampirischer Rächer aufbauen. An dieser Stelle greift aber auch ein Paradoxon des Vampirismus: Es gilt zu beißen, Blut zu saugen, den Feind zu töten, dabei aber Sorge zu tragen, dass jener durch den Biss nicht auch zum Vampir wird. Daher müssen, ist das Blut erst ausgesaugt, der Leib des Feindes mit dem Beil in Stücke gehauen und Arme und Beine festgenagelt werden."
    Romantik als Spezialgebiet
    Maria Janion wurde 1926 im damaligen Ostpolen geboren, wuchs in Wilna auf und studierte nach dem Krieg in Lodz und Warschau Polonistik. Von 1957 bis 2010 lehrte sie parallel in Danzig und Warschau, von 1949 bis zu ihrem Ausschluss 1979 war sie Mitglied der Kommunistischen Partei. Die Romantik war von Anfang an Janions Spezialgebiet.
    Ob sie intuitiv verstand, dass sie damit nicht nur ein ergiebiges Fachgebiet, sondern einen Schlüssel zu Polen und seiner Geschichte in der Hand hielt, oder ob die Romantik sich erst im Laufe der Zeit als Schlüssel erwies, lässt sich wahrscheinlich nicht mehr rekonstruieren. Immerhin war auch vor Janion schon klar, dass die Romantik mit der Auslöschung der polnischen Staatlichkeit und mit großen Aufständen gegen die Fremdherrschaft zusammenfiel und dass die Romantiker von diesen dramatischen Umbrüchen geprägt wurden.
    Maria Janion beleuchtet die großen polnischen Themen und Autoren so, wie es nur wirklich große Geister wagen: Ohne Angst vor Konflikten mit dem jeweils herrschenden intellektuellen Mainstream und ohne übergroßen Respekt vor den großen Namen und Traditionen ihres eigenen Landes. Denn das ist immer das Gefährliche und doch das Notwendige: das eigene Land, die eigenen nationalen Mythen und ihre selbstgewissen Anhänger durch Kompromisslosigkeit, Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit so heftig wie eben nötig zu verprellen. In Polen heißt das für eine kritische linke Intellektuelle wie Maria Janion heute: Widerstand gegen das seit 1989 dominierende katholisch-national-konservative Milieu und seine Sicht der polnischen Geschichte.
    Und so dekonstruiert Janion den doppelten polnischen Helden und Opfermythos in dem brillanten Essay "Krieg und Form" über Milon Bialoszewskis durch und durch unheldische Erinnerungen an den Warschauer Aufstand von 1944. Sie erinnert ihre Landsleute daran, dass Polen im Laufe der Geschichte nicht nur mehrfach von Fremden kolonisiert wurden, sondern in der heutigen Ukraine und in Weißrussland auch selbst als Kolonisatoren auftraten. Nicht zuletzt beschäftigt Janion sich immer wieder mit dem polnischen Antisemitismus.
    Auch hier führen die Spuren in die Romantik, zum apokalyptischem Revolutionsdrama "Die ungöttliche Komödie" des kanonischen Visionärs Zygmunt Krasinskis. Janion nennt sein Werk, mit dem sie sich im Laufe ihrer Karriere vielfach befasst hatte, nun ein "vergiftetes Meisterwerk" - vergiftet vom Antisemitismus. Die Studie über Krasinski heißt "Der Gründungsmythos des polnischen Antisemitismus" und erschien zuerst 2009. Maria Janion war damals bereits deutlich über 80 Jahre alt, ihre Schaffenskraft ungebrochen.
    Maria Janion: Die Polen und ihre Vampire - Studien zur Kritik kultureller Phantasmen. Herausgegeben und mit einer Einführung von Magdalena Marszalek. Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann und Thomas Weiler, Suhrkamp Verlag 2014, 475 Seiten, 48 Euro