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Lob der Ignoranz

Wie immer, wenn wir nichts wissen, googlen wir. Und wir stellen fest: Das Wissen ist viel größer als das Unwissen. Für das Wort "Wissen" gibt es 136 Millionen Treffer, für "Unwissen" nur 330 000. Fast möchte man den Artenschutzbund alarmieren, denn das Unwissen ist in unserer Wissensgesellschaft offenbar vom Aussterben bedroht. Es ist geradezu niederschmetternd, was heutzutage alles gewusst wird, und wie wenig wirklich nicht gewusst wird. Da kommt ein Büchlein, dessen expliziter Zweck darin besteht, das Unwissen des Lesers zu vergrößern, gerade recht.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 30.09.2007
    Schon 1874 erklärte ein Physikprofessor dem jungen Max Planck, in der Physik sei inzwischen so gut wie alles bekannt, da gebe es nichts mehr zu erforschen. Das war kurz bevor die Atomphysik unser ganzes Weltbild revolutionierte, wozu Max Planck mit seiner Quantentheorie Wesentliches beitrug. Man sieht an diesem Beispiel, wie sehr sogar Experten bei der Einschätzung der Wissenslage irren können, wenn sie nicht einmal wissen, was sie alles nicht wissen.

    Dieses Problem hatte der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld im Auge, als er seine viel belachte Äußerung über die known knowns, die known unknowns und die unknown unknowns tat - also Dinge, die bekannt sind, Dinge, von denen bekannt ist, dass sie noch unbekannt sind, und eben Dinge, die so unbekannt sind, dass man noch nicht einmal weiß, dass man über sie nichts weiß. In solcher negativen Epistemologie liegt natürlich eine intellektuelle Herausforderung der Extraklasse, denn hier geht es nicht um Antworten, sondern um Fragen.

    " Die richtigen Fragen zu stellen und damit das Unwissen zu enthüllen, das ist eine wichtige Aufgabe der Wissenschaft. Denn das Unwissen ist immer schon da, nur nicht für jeden offenkundig; es ist wie das schwarze Tier, das in einem Vexierbild den Raum um das weiße Tier herum füllt und das man erst erkennt, wenn man das Bild eine Weile betrachtet hat. Dann aber ist es nicht mehr zu übersehen. "

    42 Mal lassen Kathrin Passig und Aleks Scholz das schwarze Tier erscheinen. In 42 Kapiteln zeigen sie uns 42 wissenschaftliche Erkenntnislücken, die teils gravierend, teils skurril, teils gigantisch und teils nebensächlich, aber immer so überraschend sind, dass man bei der Lektüre rasch in jenen Zustand gerät, der für die griechischen Philosophen der Ausgangspunkt des Denkens war: das Staunen.

    " Stellt man sich den Erkenntnisstand der Menschheit als eine große Landkarte vor, so bildet das gesammelte Wissen die Landmassen dieser imaginären Welt. Das Unwissen verbirgt sich in den Meeren und Seen. Aufgabe der Wissenschaft ist es, die nassen Stellen auf der Landkarte zurückzudrängen. Das ist nicht einfach, manchmal tauchen an Stellen, die man schon lange trocken gelegt glaubte, wieder neue Pfützen auf. Ein Beispiel ist die Frage, wann und durch wen Amerika besiedelt wurde: Sie galt mehr als ein halbes Jahrhundert als geklärt, ist seit einigen Jahren aber wegen neuer Funde wieder vollkommen offen. Forschervermehren eben nicht nur das Wissen der Menschheit, sondern auch das Unwissen. "

    Kathrin Passig hat nicht von ungefähr den Bachmann-Wettbewerb vor einem Jahr mit einem Text gewonnen, in dem es um geografische Orientierungsnot ging. Die Landkartenmetaphern für das Wissen taugen aber allenfalls zur Beschreibung der umwegreichen Abenteuer, mit denen der Forschungsfortschritt oft verbunden ist. Im übrigen gilt: je mehr unbekannte Wissenslandstriche vermessen und erkundet werden, desto mehr Neuland taucht auf. Es handelt sich eben nicht bloß um das allmähliche Ausmalen weißer Flecken auf einer Karte. Dieses paradoxe Wachstum des Unwissens erinnert an eine Erkenntnis aus der Hirnforschung, nämlich dass unser Kopf keine Schüssel ist, wie unsere besorgten Eltern glaubten, als sie uns mahnten, wir sollten uns nicht mit Unnützem beschäftigen. Dahinter stand die Furcht, dass der Speicher irgendwann voll ist und das sogenannte Wesentliche nicht mehr hineinpasst. Weil diese Furcht unbegründet ist, können wir uns guten Gewissens in dieses Lexikon vertiefen und beispielsweise über die seltsame Gepflogenheit des Einemsens belehren lassen.

    " Als ob es nicht schlimm genug wäre, dass Tiere häufig so absurd aussehen, dass man den ganzen Tag vor ihrem Gehege stehen und mit dem Finger auf sie deuten möchte, legen sie dazu auch noch abwegige Verhaltensweisen an den Tag - wahrscheinlich nur, um uns zu verwirren. Dass in der Folge Forschungsgelder der Biologiefachbereiche sinnlos verschleudert werden müssen, ist ihnen natürlich egal. An über 250 Vogelarten lässt sich beispielsweise eine der rätselhafteren tierischen Angewohnheiten beobachten: das sogenannte Einemsen. Der schöne Fachbegriff wurde 1935 von dem deutschen Ornithologen Erwin Stresemann geprägt und beschreibt das Einreiben des Gefieders mit Ameisen, anderen Insekten, aber auch aromatischen Substanzen wie Mottenkugeln, rohen Zwiebeln, Seifenwasser, Apfelstücken, Essig, Zigarettenkippen und Zitrusfrüchten. "

    Stimmt fachlich alles haargenau und ist doch lustig ausgedrückt. Die Autoren würzen die kompliziertesten Zusammenhänge mit saloppen Nebenbemerkungen und bis ins Kalauerhafte reichenden Pointen. Wer diese manchmal etwas forcierte Lockerheit nicht mag, hat mit dem Buch echt Pech, denn Passig und Scholz sind nun mal so drauf.

    Und um auf das Einemsen zurückzukommen: am Ende der Beschreibung und Erörterung dieses merkwürdigen Gebarens wissen wir bloß, dass niemand weiß, wozu es dient. Es gehört damit zu der Abteilung der biologischen Rätsel, die neben den physikalischen den größten Raum einnimmt. Daneben gibt es noch die geschichtlichen und die gesellschaftlichen Rätsel, aber um die machen Passig und Scholz eher einen Bogen, da man gewisse Unklarheiten bezüglich der Vergangenheit nur mit Hilfe einer Zeitmaschine beseitigen könnte und deshalb davon ausgehen muss, dass sie prinzipiell unlösbar sind. Doch das Auswahlprinzip für dieses Lexikon besteht unter anderem darin, dass es sich um echte Forschungsdesiderate handelt, an denen die Fachwelt wirklich arbeitet.

    " Das sicherste Anzeichen für gutes Unwissen ist es, wenn Experten auf Konferenzen Wetten darüber abschließen, aus welcher Richtung die Lösung für ein bestimmtes Problem zu erwarten sei. Ideal wäre es also, Experten so lange mit Fragen zu quälen, bis sie einhellig bekunden, nicht weiterzuwissen. Leider ist das nur in wenigen Fällen praktikabel. Stattdessen muss man Unwissen mühevoll und indirekt anhand der Leerstellen in Abhandlungen über Wissen heraussuchen, die in den meisten Fällen sorgsam um das Unwissen herum erklären. Nur ganz selten findet man direkte Hinweise auf Unwissen. "

    Wäre es anders, bräuchten wir dieses Buch nicht. Aber so haben Passig und Scholz mit einigem Rechercheaufwand sogar im häuslichen Nah-, um nicht zu sagen: Intimbereich klaffende Wissenslücken aufgespürt, die sogar mehr erregen als nur Staunen.

    " Einerseits ist es überraschend, dass über so elementare und vergleichsweise angenehm zu erforschende Angelegenheiten wie die weibliche Ejakulation und die Gräfenberg-Zone (alias G-Punkt) längst nicht alles bekannt ist. Andererseits wurde selbst die Klitoris erst im 16. Jahrhundert - also einige hundert Millionen Jahre nach ihrer Markteinführung - von der medizinischen Fachliteratur entdeckt. Man darf wohl davon ausgehen, dass sie bis dahin schon das eine oder andere Mal von interessierten Laien bemerkt wurde, jedenfalls kritisierte schon im 17 Jahrhundert der dänische Anatom Caspar Bartholin seine Vorgänger dafür, dass sie sich mit dieser angeblichen Entdeckung schmückten: Die Klitoris sei bereits den alten Römern bekannt gewesen. Das klingt nicht ganz unwahrscheinlich. "

    Dass auch Ejakulation - Komma - weibliche in der Schattenzone gesicherter Erkenntnis liegt, hat freilich ganz andere Gründe als die Wissenslücken in Bezug auf die im Alphabet nachfolgenden Elementarteilchen. Wieder anders verhält es sich in Sachen Erkältung, beim Gähnen, beim Geld oder bei Halluzinogenen, ganz zu schweigen von Klebeband, Kugelblitzen und der Riemann-Hypothese. Das Beeindruckende am Unwissen ist, dass es in jedem Einzelfall eine ganz eigene mentale Ausstattung mitbringt, eine Art Unwissensgeschichte, die sich auf der Rückseite des aufklärerischen Denkens und Forschens abspielt. Das gilt nicht nur für das Thema der weiblichen Ejakulation, aber hier wird es besonders deutlich.

    " Generell ist die Sexualwissenschaft nach einer kurzen Blütezeit in den 1920er und 1930er Jahren nur schleppend vorangekommen, was unter anderem daran liegt, dass sich - in den USA wie in Europa - nörgelnde Stimmen erheben, wenn an Universitäten der Orgasmus erforscht werden soll. Der Steuerzahler vermutet ohnehin, dass an Universitäten zu viel am Orgasmus geforscht und zu wenig gearbeitet wird. So lässt sich vielleicht erklären, dass die meisten Mediziner bis heute von den hier behandelten Teilen und Funktionen des weiblichen Körpers eher weniger wissen als der durchschnittlich aufmerksame Pornographiebetrachter. "

    Wenn nur der besagte Pornographiebetrachter mal nicht mit dem besagten Steuerzahler identisch ist. Oder anders gesagt: das Laienmodell hat im Hinblick auf den Wissenschaftsbetrieb auch seine Tücken. Kathrin Passig und Aleks Scholz meinen es natürlich durchweg positiv; sie führen den Amateur als Mittel gegen akademische Betriebsblindheit ins Feld - ein Konzept, das ja dank Internet enorme Tragweite gewonnen hat. In der Tat hat sich das weltweite Wissen auf eine Weise demokratisiert, die auch ganz seriöse Unternehmungen wie Wikipedia hervorbrachte. Überhaupt scheint ein neues Zeitalter der Polymathie über uns zu kommen, eine Lust an der Vielwisserei, die im 18. Jahrhundert als Nebeneffekt der Aufklärung grassierte. Der exorbitante Erfolg von "Schotts Sammelsurium", jenes zusammenhanglosen Kompendiums höchst interessanter und vollkommen überflüssiger Informationen, ist nur ein Beispiel von vielen. Der Zeitgeistspürer Benjamin von Stuckrad-Barre brachte unlängst eine relativ beliebig zusammengegooglete Enzyklopädie mit dem Titel "Was.Wir.Wissen" heraus; in dieser Linie stellt das vorliegende "Lexikon des Unwissens" gewissermaßen die avancierteste und zugleich subversivste Position einer fröhlich postakademischen Wissenschaft dar, die dem klassischen Totalitätsanspruch von Wahrheit offenbar längst abgeschworen hat.

    Nur in einem Punkt versagt die methodische Lockerheit von Passig und Scholz, und zwar wenn sie die Mutter aller Wissenslücken abhandeln: das Leben.

    " Weil wir nur ein Beispiel für Leben im Universum kennen, nämlich das auf der Erde, muss sich die Forschung zwangsläufig auf diesen einen Spezialfall beschränken. Das ist etwas riskant, denn die Betrachtung eines solchen Spezialfalls kann zu völlig falschen Schlüssen führen, "

    Der spaßige Ton kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es hier, ziemlich genau in der Mitte des Buchs, auf einmal recht ernst wird. Denn bevor die Materie in Menschengestalt angefangen hat, über sich selber nachzudenken, was zu erklären ja auch noch eine ungemeisterte Herausforderung für Wissenschaftler darstellt, ereignete sich jenes kosmische Aminosäuren-Mysterium, von dem wir allen Anstrengungen zum Trotz noch nicht das mindeste begriffen haben. Da können unsere pfiffigen Autoren auch nichts anderes tun, als ein paar Milliarden Jahre Erdgeschichte mitsamt DNA-Einsprengseln auf sieben Seiten zu referieren.

    " Wasser ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Entstehung und Entwicklung von Leben, ohne Wasser kein Urozean und ohne Urozean keine Ursuppe. Wie das Wasser auf die Erde kam, ist allerdings wiederum unbekannt. In einigen Theorien geht man davon aus, dass wasserreiche Himmelskörper, zum Beispiel Meteoriten oder Eiskristalle, die Erde erst relativ spät mit Wasser belieferten. Andere Forscher bauen die Erde aus mehreren kleinen Planetenembryos zusammen, von denen einige Wasser mitbringen. Alle Ansätze sind problematisch. Manchmal kommt zwar Wasser an, aber es verschwindet sofort wieder, manchmal kommt auch Wasser an, aber nur, wenn man großes Glück hat, manchmal klappt es auch überhaupt nicht. Und weil umstritten ist, wie und wann Wasser auf die Erde kam, ist auch fraglich, ob die Herstellung von Aminosäuren auf der frühen Erde funktionierte, selbst wenn es eine passende Atmosphäre gegeben haben sollte. "

    Zweierlei lässt sich hieraus lernen: zum einen funktioniert das Leben eigentlich erstaunlich gut, ohne dass wir es verstehen - ein trostreicher Aspekt, der in dem heute herrschenden Erkenntnisfortschrittsstress leicht vergessen wird; und zum anderen sind eindeutig jene Themenfelder unterhaltsamer, die sich nicht von Ewigkeit zu Ewigkeit spannen, sondern auf der Ofenbank liegen und vor sich hin schnurren.

    Ja, auch das typische Geräusch, das frohe Katzen von sich geben, gehört wahrhaftig noch immer zu den ungelüfteten Geheimnissen der Natur, obwohl doch gerade an Katzen für erkenntnisdurstige Wissenschaftler nie Mangel herrschte. Aber es reicht eben nicht, tote Katzen aufzuschneiden und detailliert aufzuschreiben, womit sie angefüllt sind. Denn sie schnurren dann nicht mehr.

    " Trotz einiger Bemühungen ist weder ganz klar, wie und womit Katzen schnurren, noch, warum sie es tun. Ebenfalls offen ist bisher die Frage, ob alle oder nur ziemlich viele Angehörige der Familie Felidae schnurren und ob sie das auf dieselbe Weise tun und dasselbe damit meinen, denn außer für die Hauskatze wurden noch kaum Daten zum Schnurrverhalten und zur Schnurrtechnik erhoben. Es scheint jedenfalls irgendwie im Hals der Katze befestigt zu sein, das Schnurren - oder auch nicht. "

    "Oder auch nicht" könnte, wenn das Buch nicht schon so viele köstliche Mottos enthielte, als Devise über dem Ganzen stehen. "Oder auch nicht" ist der perfekte Ausdruck für den richtigen Umgang mit wissenschaftlichen Hypothesen.

    " Aber selbst wenn man genau wüsste, womit die Katze schnurrt, wäre immer noch die Frage offen, warum sie es tut. Versichern Katzenkinder damit der Mutter, dass alles in Ordnung ist? Dafür spräche, dass das Schnurren auch beim Trinken funktioniert. Dagegen scheint zu sprechen, dass auch erwachsene Katzen schnurren, und zwar nicht nur "bei der Interaktion mit freundlich gesinnten Lebewesen", sondern auch dann, wenn sie große Schmerzen haben oder im Sterben liegen. Beruhigt sich die Katze durch das Schnurren? Oder löst das Schnurren die Ausschüttung von Endorphinen aus, körpereigenen schmerzlindernden Substanzen? "

    Passig und Scholz berichten von einer Theorie, der zufolge das Schnurren der Katze ihr Knochenwachstum stimuliert und überhaupt eine Art Selbstheilungsmechanismus darstellt, denn Katzen überleben bekanntlich jede Art von Verletzungen, solange alle ihre Einzelteile im selben Raum versammelt sind.

    Im Unterschied zum Schnurren kann jeder Mensch das Gähnen an sich selbst studieren, und jeder mag sich schon gefragt haben, was es mit dem sonderbaren Phänomen der Ansteckung auf sich hat.

    " Oft hört man, die Ursache des Gähnens sei Sauerstoffmangel. Angeblich, so der Volksglaube, gähnen Menschen, wenn sie in schlecht durchlüfteten Räumen sitzen, und zwar, um durch das weite Aufsperren des Mundes an mehr Luft zu kommen. Dieser Gedankengang ist vermutlich zu simpel, um wahr zu sein. Schon einfache Plausibilitätsüberlegungen erwecken leise Zweifel: Warum gähnen Löwen beim Herumliegen in der Savanne? Sauerstoffmangel etwa? Warum gähnen ungeborene Babys im Mutterleib, wo sie doch durch die Nabelschnur (und nicht durch den Mund) mit Sauerstoff versorgt werden? "

    Ganz klar, hier liegt wieder ein Auftrag für unsere Unwissensdetektive, und: richtig vermutet - das menschheitsalte Gähnen ist der Wissenschaft bis heute noch ein Rätsel. Es hat wohl etwas mit dem Wechsel von Aktivitätszuständen im Gehirn zu tun, doch trotz aller Durchbrüche in der Hirnforschung, bleiben wir auf einem Haufen Vermutungen sitzen.

    " Die komplexe Bedeutung des Gähnvorgangs ist einzigartig, vor allem, wenn man bedenkt, dass andere unfreiwillige Anstrengungen des Körpers wie Niesen, Husten oder Lachen viel weniger vielseitig einsetzbar sind. Das Gähnen scheint eine Allzweckwaffe zu sein, von der Evolution erdacht, um unserem ohnehin schon bizarren Dasein eine neue, absonderliche Komponente hinzuzufügen. "

    Und diesem Buch ein weiteres Kapitel, unsere Welt als eine höchst skurrile Einrichtung darstellt. Diese geradezu biedermeierliche Perspektive der Drolligkeit hat etwas durchaus Entkrampfendes. Man leidet nach der Lektüre keineswegs unter dem neu aufgetürmten Unwissen, sondern empfindet es als gesunden geistigen Ballaststoff - eine empfehlenswerte Kopf-Diät.

    Und es ist endlich wieder mal ein Buch, das man nicht von vorne lesen muss. Man kann mit der Lektüre ebenso gut hinten oder von irgendeiner Seite aus anfangen. Soviel Freiheit hat man als Leser selten. Dabei handelt es sich keineswegs um ein Nachschlagewerk. Die Bezeichnung Lexikon ist ironisch zu verstehen; es geht ja gerade nicht um kurze, kernige Begriffserklärungen, sondern darum, eine höhere Form von Begriffsstutzigkeit zu erzeugen. Und es geht um ein literarisches Projekt, bei dem der Text immer noch wichtiger ist als die Botschaft.

    Da die Wissenschaft es generell darauf anlegt, Unwissen zu beseitigen und es durch Wissen zu ersetzen, ist der Inhalt dieses Buchs nur von begrenzter Haltbarkeit. Die Autoren sind noch jung und könnten es erleben, dass ein Teil ihrer Trouvaillen von Forschungs-Fluten weggespült werden. Da ist möglicherweise Themennachschub gefragt. Heiße Eisen wie den Klimawandel in seiner ganzen Umstrittenheit fassen sie zwar gar nicht an, aber wie wäre es mit den Abgründen der Homöopathie, dem Mord an Olof Palme oder der rätselhaften Rolle der Thymusdrüse beim Menschen? Alles Dinge, die man gern im Scholz-und-Passig-Sound beschrieben bekäme mit einem Humor, der an Georg Christoph Lichtenberg erinnert.