Donnerstag, 25. April 2024

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Lobbyismus in Deutschland
Spannender Blick hinter die Kulissen

In Berlin arbeiten schätzungsweise rund 5.000 Lobbyisten. Auf jeden Bundestagsabgeordneten kommen – rein rechnerisch – damit acht Interessensvertreter. Daraus ergibt sich eine Frage, der Markus Balser und Uwe Ritzer in ihrem Buch "Lobbykratie" nachgegangen sind: Wer trift denn eigentlich die Entscheidungen – und für wen?

Von Stefan Maas | 01.08.2016
    Der Plenarsaal des Deutschen Bundestages
    Wer trifft die Entscheidungen in Berlin? Die Politik oder die Lobbyisten? (picture alliance / dpa / Michael Kappeler)
    Es klingt nach dem perfekten Material für einen Politthriller: Mindestens 100 Tonnen militärisches Uran aus Russland landen in deutschen Atomkraftwerken. Das führt dazu, dass die Deutschen,
    "wenn sie den Computer angemacht haben, wenn sie den Kühlschrank angemacht haben, eigentlich zu atomaren Abrüstern geworden sind in den vergangenen Jahren",
    erzählt Markus Balser, der diese Geschichte gemeinsam mit Uwe Ritzer für ihr Buch "Lobbykratie – Wie die Wirtschaft sich Einfluss, Mehrheiten, Gesetze kauft" recherchiert hat.
    Ein Deal eingefädelt 2002, um Russland bei der atomaren Abrüstung zu helfen.
    "Das ist technisch möglich. Das hatte ein großes Volumen, also, es gab 1.000 Brennelemente, die so bestückt waren. Ein Reaktor kann mit 200 Brennelementen fünf Jahre laufen. Das ist also ein großes, großes Programm gewesen, darüber hat kaum jemand gesprochen. Wir haben uns dann auch gefragt, warum war das so?"
    Ein perfider Versuch, den Atomausstieg zu boykottieren
    Wie so oft in einem Thriller gibt es auch in hier einen Plan und einen Alliierten, von dem die Hauptfiguren – in diesem Fall die großen internationalen Staatenlenker – später feststellen, dass er ein ganz eigenes Spiel spielt. In diesem Fall: die deutsche Energiebranche. Allen voran das baden-württembergische Unternehmen EnBW.
    Interne Dokumente der Atombranche lassen einen Verdacht aufkommen, schreiben Balser und Ritzer: Deutsche Atommanager könnten nicht nur Helfer bei dem Deal gewesen sein, sie zählten möglicherweise zu den Initiatoren.
    "Das war ein ziemlich perfider Versuch, aus unserer Sicht, den Atomausstieg zu boykottieren."
    Denn was die Unternehmen den Politikern – vor allem den deutschen - vorenthalten hatten, war die Information, dass die Atomkraftwerke, um das Abrüstungsversprechen zu erfüllen, weit über jenen Zeitpunkt hinaus hätten laufen müssen, der für sie im Atomkonsens als Abschaltdatum festgelegt war.
    "Damit hätte man also zur rechten Zeit der Politik sagen können, wir können noch nicht aussteigen, unsere politische Verpflichtung läuft weiter, wir müssen die Atomkraftwerke weiter laufen lassen."
    Viele Jahre haben sich die beiden Wirtschafts-Journalisten der "Süddeutschen Zeitung" immer wieder mit dem Thema Lobbyismus beschäftigt, bevor sie sich entschlossen, für Ihr Buch noch tiefer in die Materie einzutauchen. Das Ergebnis ist ein faszinierender Einblick in eine Welt, deren Bewohner es zumeist vorziehen, nicht in der Öffentlichkeit zu stehen.
    Dabei ist es zunächst einmal wichtig festzuhalten: Interessenvertretung ist nicht grundsätzlich schlecht. Im Gegenteil, sie ist Teil des demokratischen Prozesses. Das Grundgesetz fordert, dass Bürgerinnen und Bürger, aber auch gesellschaftliche Gruppen und auch Vertreter der Wirtschaft im parlamentarischen Prozess ihre Interessen vertreten können müssen, betonen auch die beiden Autoren:
    "Der Austausch mit Interessenvertretern gehört zum Kerngeschäft von gewählten Parlamentariern. (...)
    Der Grundgedanke, das Ideal ist ja auch faszinierend: Jeder, der will und kann, bringt seine Argumente, sein Spezialwissen, seine Fakten und seine Kompetenzen in den politischen Prozess ein. Die Politiker sammeln die Informationen, sichten sie, wägen ab, balancieren die widerstreitenden Interessen aus – und entscheiden am Ende zum Wohle aller."
    Grundrechte in Gefahr
    "Was wir heute erleben, ist allerdings eher ein Lobbyismus oder eine Interessenvertretung, die eben nicht im Sinne dieses Grundgesetzes stattfindet, sondern diese Grundrechte eher in Gefahr bringt. Wir erleben, dass diese versuchte Beeinflussung eben nicht den demokratischen Mehrheiten entspricht."
    Balser und Ritzer nehmen den Leser mit in ein politisches Berlin, in dem weder die demokratischen Institutionen noch alle Akteure so wehrhaft erscheinen wie sie gerne würden. Sie beschäftigen sich mit durchaus bekannten Phänomenen: Mit Volksvertretern, die neben ihrer Abgeordnetentätigkeit noch Geld von Unternehmen oder Verbänden bekommen, was in vielen Fällen Interessenkonflikte zumindest nahelegt, auch wenn die Beteiligten das bestreiten. Sie folgen den Karrieren von Seitenwechslern, ehemaligen Politikern und Parteifunktionären, die ihr Wissen und ihre Kontakte auch nach dem Ende ihrer eigentlichen politischen Karriere gewinnbringend für ihre Auftraggeber und sich einzusetzen wissen.
    Einen besonders intensiven Blick werfen sie dabei auf das Umfeld der SPD und des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Doch auch die meisten anderen Parteien kommen kaum besser weg.
    Lobbyismus im Wandel der Zeit
    Ein weiterer interessanter Aspekt ist bei der Lektüre, wie sich die Arbeitsweise der Lobbyisten im Laufe der Jahre verändert hat. Industrieverbände verlieren als Interessenvertreter an Bedeutung, weil viele große Unternehmen ihre eigenen Leute nach Berlin oder Brüssel schicken, große internationale Anwaltskanzleien mischen im Auftrag ihrer Klienten auch mal bei der Gesetzgebung – zum Beispiel der europäischen – mit
    "und es sind Think Tanks, die von Lobbyisten aufgebaut werden, vielleicht auch als Tarnorganisationen, um eben nicht nur die Politik zu beeinflussen, sondern gleich auch noch das gesellschaftliche Klima."
    Ein hoch brisantes Thema, denn Mitarbeiter solcher Thinktanks aber auch andere Wissenschaftler werden in der medialen oder gesellschaftlichen Debatte oft als neutrale Experten wahrgenommen. Nicht immer zurecht, wie Balser und Ritzer zeigen. Ganz neu ist dieses Phänomen nicht, auch wenn die Wirtschaft das volle Potenzial dieser Einflussnahme erst nach und nach entdeckt hat.
    Um diesen Aspekt näher zu beleuchten, haben sich die beiden Autoren unter anderem mit Naomi Oreskes getroffen. Sie ist Wirtschaftshistorikerin an der Harvard University. Gemeinsam mit einem Kollegen hat sie aufgeschlüsselt, dass in den USA eine kleine, feste Gruppe von Wissenschaftlern über Jahrzehnte unter anderem im Dienst der Tabak- oder der Öl-Industrie damit beschäftigt war, andere Wissenschaftler und ihre Erkenntnisse zum Rauchen oder zum Klimawandel zu diskreditieren, weil diese Erkenntnisse dem Geschäft ihrer Auftraggeber gefährlich wurden.
    "Wohlgemerkt: Es waren in allen Fällen dieselben Personen am Werk. Spezialisten nicht etwa in Sachen Lungenheilkunde oder Klimaforschung – sondern Experten in der zweifelhaften Kunst, den Menschen Gründe zu geben, unbequeme Wahrheiten bequem zu ignorieren."
    Lobby und Medien
    In diesem Zusammenhang widmen die beiden Autoren auch dem Thema Lobby und Medien viel Raum, denn die Medien sollten idealerweise eine Wächterfunktion in der Demokratie übernehmen. Ein hoher Anspruch, dem diese in vielen Fällen nicht mehr gerecht werden – oder werden können. Denn während viele Unternehmen ihre Kommunikationsabteilungen aufstocken und deren Etat ausweiten, bauen viele Redaktionen Personal ab.
    Doch nicht nur die Medien müssen ihrer Verantwortung nachkommen, argumentieren die beiden Autoren. Sie appellieren vor allem an die Politik. Die müsse für mehr Transparenz sorgen, dafür, dass der Einfluss der Wirtschaft auf politische Prozesse und Entscheidungen besser erkenn- und nachvollziehbar wird.
    "Es ist für Lobbyisten unglaublich unangenehm, aus dem Schatten gezogen zu werden, das ist sozusagen geschäftsschädigend. Insofern ist es ganz wichtig, diese Fälle aufzuarbeiten. Immer wieder Licht ins Dunkel zu bringen, in die Hinterzimmer zu bringen. Und ich denke, das ist eine der schärfsten Waffen gegen Lobbyismus."
    Ernüchterndes Leseereignis
    Lobbykratie ist nicht unbedingt das Buch, das man mit an den Strand oder den Badesee nimmt, aber eines, das sich lohnt zu lesen. Nicht nur für Fans politischer Thriller. Es ist fesselnd, gut recherchiert und geschrieben, in sachlichem, nie eifernden Tonfall – und vor allem: wahr. Das macht Lobbykratie aber auch zu einem ernüchternden Lese-Ereignis. Und ob es ein Happyend gibt, bleibt abzuwarten.
    Uwe Ritzer und Markus Balser: "Lobbykratie: Wie sich die Wirtschaft Einfluss, Mehrheiten, Gesetze kauft",
    Droemer HC 2016, 368 Seiten, 19,99 Euro