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Lobeshymne an den Vater

Erinnerungsbücher von Söhnen sind fast durchweg von Seelenpein und Düsternis gekennzeichnet. Aris Fioretos fällt absolut aus diesem Rahmen. Der schwedisch-griechische Schriftsteller hat mit "Die halbe Sonne" ein Meisterwerk liebevoller Zuwendung geschrieben.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 12.05.2013
    Es gibt in der üppigen Väterliteratur von heute Zeugnisse ewigen Hasses sowie später Versöhnung, es gibt den Ödipuskomplex und das Leiden am Übervater, und es gibt in deutschen Familiengeschichten die Spezialität, dass die Vergangenheit des Vaters oft mit Kriegsverbrechen oder Massenmord verknüpft ist. Erinnerungsbücher von Söhnen sind also fast durchweg von Seelenpein und Düsternis gekennzeichnet, sie erzählen vom Widerwillen und der Überwindung, die es kostet, sich mit der für viele Autoren problematischsten Figur in ihrem Leben auseinanderzusetzen: dem Vater.

    Aris Fioretos fällt absolut aus diesem Rahmen. Der schwedisch-griechische Schriftsteller hat mit "Die halbe Sonne" ein Meisterwerk liebevoller Zuwendung geschrieben, einen ebenso zarten wie starken, ebenso witzigen wie melancholischen, ebenso simplen wie subtilen Text, der detailversessen autobiografisch ist und doch wie jeder gute Roman von etwas Exemplarischem handelt, nämlich von der metaphysisch-mystischen Verbindung zwischen Sprössling und Erzeuger. Deswegen heißt der Vater häufig nur "ein Vater".

    Das Buch beginnt mit dem Ende. Der Sohn erhält die Nachricht vom Tod des Vaters telefonisch von der Mutter, deren Stimme "dünn wie Nähseide" ist. Der Sohn lebt in Schweden; der Vater ist in Griechenland gestorben. Dazwischen liegt eine Flugreise; Emigrantenschicksal. So bekommt der Sohn nur noch den Toten zu Gesicht, unter den üblichen gespenstisch geschäftigen Umständen: Man wird von Pietätsprofis zum Sarg geführt, dann betont rücksichtsvoll alleingelassen, während das Personal eine Zigarette lang vor der Tür wartet. Kühl und nüchtern beschreibt der Autor die Szene – und doch zutiefst berührend.

    Während er an dieser Klippe der Zeitlichkeit stehend versucht, wenigstens die letzten Eindrücke festzuhalten, indem er sie auf dem herausgerissenen Nachsatzblatt eines Gesangbuchs notiert, beschließt er, dieses Buch zu schreiben. Sein Vorhaben heißt: "Den Vater noch einmal zu machen" – machen im Sinne von ‚poiesis‘, von Poesie. Er will das Leben seines Vaters rückwärts erzählen bis zu dessen Anfängen.

    Der Sohn weiß, daß er mehr über den Vater weiß, als dem Vater unter Umständen bewußt ist. Der Sohn weiß auch, daß der Vater mehr über seinen Sohn weiß, als der Sohn ahnen kann. Bei diesem Gedanken wird ihm warm. Er denkt an trockenen Sand unter den Schulterblättern. An hohle Hände. An zuverlässige Kleiderhaken.

    Das ist der Ton, mit dem Aris Fioretos auf fast jeder dieser 192 Seiten den Leser in Erstaunen setzt: Eine lyrische Sprache, die mehr sagt als die Vokabeln, die sie enthält. So klingt ein Buch, das keine biografische Erzählung ist, sondern eine Komposition – getreu der Grundthese, "daß Menschen aus anderen Menschen bestehen".

    Der Vierkinderpatriarch
    Allerdings hat Fioretos, im Unterschied zu manchen Söhnen, die ihre Familien-Bestandteile ein Leben lang als Verhängnis empfinden, mit seinem Vater außerordentliches Glück gehabt. Der Vierkinderpatriarch, wie er ihn nennt, war unternehmungslustig, menschenfreundlich, lebensklug und von künstlerischem Ausdrucksdrang beseelt. Er besaß zwei Schreibmaschinen, eine mit griechischen und eine mit lateinischen Buchstaben, denn er lebte lange im Exil.

    Geboren in einem griechischen Dorf, war der Vater wegen eines politisch brisanten Jungenstreichs (er hatte sein schwarzes Hemd an einem Fahnenmast gehisst) gezwungen gewesen, die Heimat Hals über Kopf zu verlassen. Er ging erst nach Wien, wo er seine spätere Frau kennenlernte, dann mit ihr nach Schweden, wo seine Berufslaufbahn als Arzt begann. Dort wurden die Kinder geboren, dort wuchsen sie auf als Immigrantenkinder – mit dem teils hinderlichen, teils herausgehobenen Bewusstsein, einer Alien-Familie zu entstammen.

    Für einen ausländischen Vater ist die Anpassungsfähigkeit seiner Kinder ein Quell des Jubels, aber auch von Flüchen. Jede Probe davon zeigt, daß er erfolgreich gewesen ist, jede Probe davon zeigt, daß er gescheitert ist.

    Erfolgreich, weil man sich um Integration bemüht, gescheitert, weil es wehtut, mit seinen eigenen Kindern keine gemeinsamen kulturellen Grundlagen zu haben. Fioretos spricht an einer Stelle von dem "Forschungszentrum für ausländischen Stolz", das er mit seinem literarischen Vater-Projekt betreibt. Immer wieder nennt er den Vater den "ausländischen Vater", als ob er testen wollte, wie sich das Ausländischsein der ersten Generation anfühlt.

    Ein ausländischer Vater beherrscht die lokale Nationalhymne nicht. Ein ausländischer Vater zögert lachend, wenn er die Nationalhymne seines eigenen Heimatlandes vortragen soll. Es kommt vor, daß ein ausländischer Vater einige Zeilen aus der Luft greift. Es kommt auch vor, daß er wütend wird, wenn man anzweifelt, daß es sich um den Originaltext handelt. Dann hält ein ausländischer Vater auch schon mal den Telefonhörer hoch und fragt, ob er wirklich seinen Bruder, den früheren Royalisten, anrufen soll.

    Die Zeitgeschichte, die politische Entwicklung Griechenlands ist zwar in diesem Buch ständig präsent, aber sie spielt nur eine untergeordnete Rolle. Wie eine Musik, die man von ferne hört, und deren Takt man sich auf die Dauer nicht ganz entziehen kann, bestimmt sie doch nicht das Geschehen, abgesehen von der für Emigranten nicht ganz unwesentlichen Frage: Darf man in die Heimat kommen oder nicht? Das liegt auch an den glückhaften Gegebenheiten in dieser Familie, wie der Sohn staunend bemerkt: Dass die Verwandten des Vaters zwar durchaus verschiedene politische Sympathien hegen, dass sie aber "nie von den Konflikten auseinandergerissen wurden, die während des Bürgerkriegs und in der Zeit danach andere Familien zerstörten".

    Rückkehr nach Athen
    Später, am Ende seiner Karriere, nachdem sich die politischen Verhältnisse in Griechenland gewandelt hatten, wurde der Vater aus Schweden zurückgerufen und mit dem Aufbau einer Abteilung an der medizinischen Fakultät in Athen betraut. So begann der Mann noch mal ein neues Leben, und der Sohn, der sich das alles im Nachhinein vergegenwärtigt, merkt, wie unzulänglich seine Vorstellungskraft ist, um zu erfassen, was seinen Vater an- und umtreibt, was der Vater fühlt und glaubt, was er zum Beispiel in dem Augenblick für einer ist, …

    … als er nach einem halben Leben im Ausland die Lippen auf den heißen Asphalt der Landebahn preßt? Der Sohn hat keine Ahnung, wie er mit den unsichtbaren Vorgängen im Vater umgehen soll. Schließlich stellt er sie sich wie Tropfen vor, die auf das Papier fallen, es allmählich aufweichen.

    Das ist ein starkes Bild und trifft vermutlich auf die meisten Entscheidungen in jedermanns Leben zu. Alles ergibt sich, passiert so, Strukturen verändern sich durch einfaches Feuchtwerden von Fasern. Ein leitender Wille ist oft eine perspektivische Täuschung: Im Nachhinein, aus dem Blickwinkel der Kinder zumal, sieht es so aus, als hätten die Eltern einen Plan verfolgt, doch wenn Fioretos auf einzelne Stellen zoomt, stellt er fest, dass vieles rätselhaft bleibt:

    Der Sohn, der die Geschichten über die Vergangenheit gehört hat, sie aber nicht immer in Einklang miteinander bringen konnte, grübelt darüber nach, warum ein Sechzehnjähriger sein Heimatdorf verläßt. Weil es zu klein ist? Oder weil es zu groß ist? Weil jeder jeden kennt? Oder weil keiner keinen kennt? Weil er das siebte und letzte Kind ist und das letzte immer seinen Willen durchsetzt? Oder weil er gut in der Schule gewesen ist und sich die meisten Geschwister bereits in der Hauptstadt aufhalten? Weil er seine Tage nicht auf den Feldern und die Abende nicht in Cafés verbringen möchte? Oder weil bald der Bürgerkrieg ausbrechen wird, und wenn es etwas gibt, was er sich nicht wünscht, dann, in die Konflikte zwischen den Familien hineingezogen zu werden?

    Jeder kennt die seltsam gemischten Empfindungen, die man beim Anschauen alter Fotos von den Eltern hat. Fotos, die sie in einem Alter zeigen, das man selbst längst überschritten hat. Fotos, die die Frage aufwerfen, ob man mit diesen Menschen, wäre man ein gleichaltriger Fremder, hätte Kontakt aufnehmen wollen. Aris Fioretos geht noch weiter: Er versucht das Lebensgefühl der Eltern selbst zu imaginieren und gelangt dabei zu aufregend profunden Einsichten:

    Wenn ein ausländischer Vater und seine ausländische Frau aus verschiedenen Ländern kommen und sich in einem dritten angesiedelt haben, denkt er darüber nach, was wohl passiert wäre, falls sie in einem ihrer Heimatländer gewohnt hätten. Er spürt das Wasser tiefer werden, er ahnt Bewegungen dort unten. Unerwartet freut sich der ausländische Vater, daß sie in einem dritten Land leben. So lernen sie voneinander, auf Wasser zu gehen.

    Möglicherweise, der Autor spart das Ausloten dieser Möglichkeit allerdings aus, gilt das auch für den Umgang eines ausländischen Vaters mit seinen Kindern: Dieses nicht abzuschüttelnde Element der Fremdheit in ihrer Beziehung könnte ja zu besonderer Behutsamkeit im Umgang miteinander führen, zumal wenn sich eine Art Schuldgefühl hineinmischt, dass man den Sprösslingen keine weniger komplizierte Existenz ermöglicht hat. Jedenfalls zeigte Vater Fioretos gegenüber seinem Sohn ein fast traumhaftes Maß an Wertschätzung, Feingefühl und Toleranz. Selbst dem Pubertierenden, der, wie es so treffend heißt, "dünn und häßlich von Gefühlen" war, flog nur ein einziges Mal die flache Hand entgegen.

    Später wird der Vater denken: Ich kann ihn nicht davor bewahren, in Seenot zu geraten. Er muß mich davor bewahren, es versuchen zu müssen.

    Ein solch kristalliner Leitsatz für den Umgang mit Heranwachsenden ist selbst in Ratgeberbüchern selten zu finden. Und selbst wenn dieser Satz aus der Feder des Sohnes stammt, der ihn seinem toten Vater nur nachträglich in den Mund legt, muss dieser Vater überlebensgroß sympathisch gewesen sein, schon weil er so einen liebevollen Sohn hat.

    Wenn ein ausländischer Vater etwas klarstellen möchte, worüber er nicht diskutieren will, sagt er: ‚Laßt uns hinausgehen, damit uns der Himmel besser sieht.‘

    Dieser Vater war Mediziner und Dichter, ein Macher und ein Träumer, ein Mensch mit Taktgefühl und Verschwiegenheit, aber auch extravagant und genießerisch, er neigte zu Übertreibungen, sah "das Mögliche als Teil des Wirklichen" an, lebte konsequent über seine Verhältnisse und flüsterte bei Bedarf seinem Sohn zu: "Komm sei nicht traurig. Ich bin’s für dich." Seinen manchmal mit Frechheit vermischten Mut deutet der Sohn als Überlebensstrategie und erinnert sich an eine typische Familienerzählung:

    Eines Tages besuchten die Eltern ein Museum, in dem sich zufällig auch Bruno Kreisky aufhielt. Vielleicht eröffnete der österreichische Bundeskanzler gerade eine Ausstellung. Als er den Vater entdeckte, marschierte er quer durch den Saal und schüttelte ihm enthusiastisch die Hand. Später lachte der Gegenstand der Aufmerksamkeit über den Vorfall, aber ein Teil von ihm konnte nie ganz das Gefühl abschütteln, er habe sie verdient.

    Wenn man im Kraftfeld eines solchen Vaters groß wird, könnte man natürlich auch an Minderwertigkeitskomplexen leiden. Man könnte Abstand brauchen zur eigenen Entfaltung. Man könnte ganz und gar unfähig sein, ein solches Buch zu schreiben, es auch nur zu wollen. Ein Buch, in dem die Erinnerung an den Vater als "stark wie Holz, Schwerkraft, Nachmittagslicht" bezeichnet wird und in dem sogar das Heikelste, was es aus Sohnesperspektive gibt, auf allerdings sehr zarte und diskrete Weise Erwähnung findet, nämlich die väterliche Sexualität. Es gab da offenbar ein außereheliches Techtelmechtel mit einer Neurologin und noch zwei weitere Seitensprünge, die en passant gebeichtet werden, es gab ein geradezu metaphysisches Körperinteresse des Arztes, und es gab dann die späte Phase des Verfalls, als das Körperliche gewissermaßen in der Umkehrung zum Thema wurde.

    Im nachhinein bedauert der Sohn, daß er die Krankheiten des Vaters niemals als andere Formen des Seins betrachtet hat. Statt dessen hat er sie als Besatzungsmächte gesehen. Erst kam Oberst Parkinson, dann General Demenz. Beide sandten ihre Truppen, die das Gehirn infiltrierten und langsam, aber sicher das Nervensystem ausschalteten. Trotz des Zitterns und der Verwirrung blieb der Vater selbst jedoch intakt, wenngleich unterdrückt und am Ende eingesperrt. Wenn sie sich unterhielten, war es undenkbar, nicht davon auszugehen, daß er noch irgendwo hinter der Front lebte, so selbstverständlich und unerwartet wie immer.

    Die Formulierung "unerwartet wie immer" ist ein für Fioretos typisches Stilmittel. Er treibt oft die Begriffe über ihren normalen Zuständigkeitsbezirk hinaus ins Paradox, um das anzudeuten, was der eigentliche Gegenstand seiner Erkundungen ist: das schwer Fassbare, das kaum Sagbare, aber eben das Widersprüchlich-Wesentliche an eines Menschen Dasein. "Selbstverständlich" und "unerwartet" werden dann zu Charaktereigenschaften des Vaters, in diesen Attributen liegen dessen Instinktsicherheit und Umtriebigkeit, Autorität und Kreativität.

    Kunstworte für den Vater
    Das kunstvolle Spiel mit Metaphern, das der Autor treibt, führt manchmal zu Ausdrücken von hypnotischer Schönheit: Etwa wenn von einer "schmalen Hoffnung, bis zum Filter heruntergeraucht" die Rede ist, wenn Vaters Medikamente als "kleine Pulvergötter" bezeichnet werden, deren Formen einen "an Weltraumreisen und Pop-Art denken [lassen], an eine Epoche, in der es für alles noch eine Lösung gab", oder wenn der Vater diesen Namen bekommt: "Er-der-nach-trockener-Erde-und-Oregano-riecht-und-die-Definition-von-Wärme-ist".

    Immer wieder taucht ein Kunstwort für den Vater auf; es lautet: "der Gesterbte". Es drückt die Weigerung des Sohnes aus, konventionell von einem Toten zu sprechen, und den Versuch, das zugrunde liegende Partizip klanglich näher in die Gegenwart zu ziehen, als wäre ein Toter dadurch etwas weniger tot. Außerdem nimmt es die Wendung "Opa ist gesterbt" der sechsjährigen Enkelin auf, wodurch die Tatsache ein wenig von ihrem Schrecken verliert. Trotzdem geht das literarische Experiment an dieser Stelle fehl, zumindest in der übrigens vorzüglichen deutschen Übersetzung. "Der Gesterbte" ist im Verhältnis zu der tiefernsten Spracheleganz dieses Textes sozusagen over-designed. Es zeugt aber von einem gewissen Humor des Autors, dass er an einer Stelle den toten Vater in geisterhafter Zwiesprache selbst Einwände gegen das Unwort erheben lässt.

    Bleibt noch der Titel zu erklären: "Die halbe Sonne". Dazu ist aber ein Exkurs nötig, denn Sonne kommt immer im Zusammenhang mit Apfelsine vor; die eine ist das Symbol der anderen.

    Manchmal fühlt sich das Herz an wie die Innenseite von Kies, manchmal wie saftigstes Apfelsinenfleisch. Oft befand sich Meersalz in den Adern. Nur daß du es weißt.

    So spricht der väterliche Geist zum Sohn. An anderer Stelle sagt er:

    Ich bin, der ich war, ich war, der ich bin. Nicht deine Mosaiksteinchen, sondern die Fugen zwischen ihnen. Nicht dein Laub, sondern der Stamm und die Äste. Empfinden das nicht alle so? Was in einem Menschen Mensch ist, ist das, was ihn zusammenhält. Du mußt dir ein zu einem Faden gezwirntes Adernetz vorstellen. Übrigens wird ein Mensch nicht weniger Mensch, nur weil das Blut aufhört zu kitzeln. Dann setzt er sich in anderen Menschen fort. Das ist das Leben, mit anderen Mitteln geführt.

    Wiederkehrende Motive
    Blut, das in den Adern kitzelt, zählt zu einer Reihe von Motiven, die in Fioretos‘ Buch mehrfach vorkommen. Ebenfalls dazu gehören eine in die Familienüberlieferung als Mutprobe eingegangene Geschichte vom Schwager und einem Stier, ein Foto von zwei Jungen auf einer Meeresklippe, eine abmontierte Eingangslampe, Lippen auf der Landebahn, ein Teppich mit Blutfleck – und eben die Sonnenapfelsine. Sie ist, wenn der Vater sie aufschneidet und anbietet, ein Symbol des Teilens, sie ist aber auch, wie der Leser auf der vorletzten Seite erkennt, eine Allegorie der Schwangerschaft. "Die halbe Sonne" verweist also auf das geheimnisvolle Band der Abstammung, das Wunder der Geburt, das mit dem Tod so eng verknüpft ist.

    Von da aus erschließen sich weitere Lesarten für diesen Text: Dem Emigrantendasein entspricht in einem höheren Sinne unser aller Gaststatus auf Erden – und bei einem Menschen, der soviel umgezogen ist wie dieser Vater, von Griechenland über Österreich nach Schweden und dort mit der Familie mindestens viermal, wobei er beim Einzug in ein neues Haus jeweils erst die Bilder aufhängte, bevor die Möbel kamen, bei einem solchen Menschen ist vielleicht das Hinscheiden auch eine Art Umzug.

    Dieser letzte Umzug fand krankheitsbedingt in Etappen statt. Bei seinen letzten Besuchen in Griechenland traf der Sohn den pflegebedürftigen Vater nur noch partiell an. Er sagte keine ganzen Sätze mehr, weil er in der Mitte ihren Sinn vergaß; die Gedanken zerbröselten bei Berührung; man schob ihn auf den Balkon an der Hausseite zum Meer hin.

    Das Geräusch von Wellen öffnet die Riegel in seiner Brust, einen nach dem anderen. Sachte verläßt er sich selbst. Er schließt die Augen, spürt die Schwere der Glieder in fernes Tosen übergehen. Als hätte er einen Weg entdeckt, fortzubestehen, ohne einen Körper zu benötigen. Am Ende befindet er sich mehr im Rauschen als auf dem Balkon.

    Wenn es wahr ist, dass Menschen aus anderen Menschen bestehen, dann stimmt auch, dass in jedem Menschen all das steckt, was er zu früheren Zeitpunkten gewesen ist: Im Erwachsenen der Vierzehnjährige und im dementen Greis der ewig zugewandte, fürsorgliche Vater, dessen Vergangenheit der Sohn mit diesem Erinnerungsbuch beschwört.

    Kommt ein Kind – beispielsweise der Sohn – zu Besuch, schert sich der Vater nicht um Verpflichtungen. Er winkt abwehrend, wenn er an Termine oder Telefonate erinnert wird, nickt zum Wohnzimmer hin, schließt hinter dem Eintretenden sorgsam die Tür. Auf die Couch herabgesunken breitet er die Hände aus, seine Augen schimmern wie Fischschwärme. ‚Was gibt es Neues bei dir?‘

    Ein Vater, der an seinen Sohn denkt, liest dieses Buch natürlich anders als ein Sohn, der an den Vater denkt. Doch aus beiden Perspektiven kann man sich nur wünschen, Teil einer so innigen, herzlichen und seelenvollen Familienbeziehung zu sein.


    Aris Fioretos: "Die halbe Sonne. Ein Buch über einen Vater."
    Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Hanser Verlag, 192 Seiten, 18,90 Euro.