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"Lodernde Wut reicht nicht"

Der Chefredakteur des Berliner "Tagesspiegel", Stephan-Andreas Casdorff, glaubt nicht, dass Guido Westerwelles Rede zum Dreikönigstreffen der FDP zur Befriedung innerhalb der Partei beiträgt. Der Parteichef habe nur eine Beschreibung des Ist-Zustands geliefert, er hätte aber auch Programmatisches bringen müsse, sagt Casdorff.

Stephan-Andreas Casdorff im Gespräch mit Jonas Reese | 07.01.2011
    Christoph Heinemann: Die Zahlen, die wir gerade gehört haben, sind vor dem Dreikönigstreffen der Liberalen ermittelt worden. Dort richtete sich das Augenmerk gestern auf den Parteivorsitzenden Guido Westerwelle, über dessen Rückzug vom Spitzenamt in den vergangenen Wochen in der FDP diskutiert wurde. Mein Kollege Jonas Reese sprach darüber mit Stephan-Andreas Casdorff und fragte den Chefredakteur des Berliner "Tagesspiegel", ob Westerwelle in Stuttgart eine Ruck-Rede gehalten habe.

    Stephan-Andreas Casdorff: Das war nicht die Rede seines Lebens. Also sich selbst zu zitieren, alle Reden zu kompilieren gewissermaßen, die gesammelten Reden herauszugeben, alle Einsichten, die sich ja nicht geändert haben, zu wiederholen und sie zu neuen zu erklären - das reicht nicht. Das ist nicht das, was man für einen Aufbruch braucht oder jedenfalls, was sich die Liberalen von einem, der für den Liberalismus steht - wohlgemerkt nicht für den Freidemokratismus, sondern für den Liberalismus -, ... nicht genug.

    Jonas Reese: Was hätten denn die Freiliberalen Ihrer Meinung nach gebraucht?

    Casdorff: Ja, in Ansätzen das, was Christian Lindner, der Ralf Dahrendorf, Lord Ralf Dahrendorf, eine Ikone des Liberalismus, freihändig zitieren kann, in Ansätzen geliefert hat. Der hat kurz mal eben so definiert und gestreift, Bildung und Bürgerrecht, was sich unter Liberalismus verstehen ließe. Ich will erinnern daran, dass es mal einen bekannten, geradezu berühmten Generalsekretär gab, das ist aber schon lange her, Karl-Hermann Flach, auch ein Journalist, zumindest anfänglich, stellvertretender Chefredakteur der "Frankfurter Rundschau". Der hat die Idee vom gleichschenkligen Dreieck beschrieben, das ist notwendig für eine nach dem erreichbaren Optimum strebende Gesellschaft, so schrieb er, eine Gesellschaft, in der sich Freiheit, Gleichheit und Wachstum im ausgeglichenen Verhältnis befinden, also sagen wir, geistige Freiheit, persönliche Freizügigkeit, soziale Gerechtigkeit, gesellschaftlicher Ausgleich, wirtschaftliches Wachstum und Effektivität - und das alles im Blick auf den Leistungs- und Wettbewerbsbegriff. Wenn man das, sagen wir, liberal, sozial und liberal definiert, dann ist man glaube ich bei dem, was die FDP, wenn sie denn eine Volkspartei sein will, eine Partei für das ganze Volk, was die FDP braucht. Und das hat Guido Westerwelle nicht geschafft und auch nicht geschaffen. Er hätte ja den Liberalismus im Angesicht neuer Herausforderungen neu definieren können, ersatzweise völlig neu definieren können. Das ist ihm ja unbenommen. Aber das Letzte, was er geschrieben hat, war in den Neunzigern, glaube ich, jedenfalls schon ewig: Neuland. Das war heute aber kein Neuland.

    Reese: Sie haben es erwähnt: Zur Krise der Partei hat er nicht viel gesagt, von Selbstkritik war auch keine Spur. Hat Westerwelle im Grunde die Krise der FDP weggeredet?

    Casdorff: Wenn das mal so einfach wäre! Maß und Mitte und Substanz, das ist ein immerwährender Anspruch an Politik. Da kann man die Krise nicht einfach wegreden. Man kann über sie hinwegreden, man kann gegen sie anreden, das kann er, aggressiv, wie er reden kann. Es ist ja nicht so, als ob er nicht über die Gabe der Rede verfügte. Aggressiv, wie er werden kann, hat er deutlich gemacht: Passt mal auf. Im Moment, mindestens für diesen Moment, auch für den folgenden, also bis zu den Landtagswahlen, werdet ihr an mir nicht vorbeikommen. Er strahlt das ja aus, dieses "Pass mal auf"-Syndrom, will ich es mal nennen. Das ist schon auch beeindruckend, da wird er zum Frontalredner. Aber jetzt ist es auch gut. Wir wissen, wie er zu Steuern, zu Hartz IV, zu all dem steht, man möchte wissen, wie es denn weitergehen soll. Es galt früher für Gerhard Schröder, vormals Bundeskanzler, der Satz aus der SPD: Man möchte schon wissen, wofür er die Macht haben will, und es genauer wissen. Und solche Reden sind eigentlich dazu da, das zu definieren, und zwar auf der Grundlage einer Wertevorstellung. Aber das war vielleicht nicht ganz so.

    Reese: Reicht die Rede Westerwelles heute, um die FDP aus der Krise hinauszuführen?

    Casdorff: Lodernde Wut reicht nicht. Also Geschlossenheit ist noch kein Wert an sich. Kameradschaftlichkeit ist beeindruckend nur für den Augenblick. Ich glaube, dass das noch nicht wirklich zur Befriedung beiträgt. Wir werden heute und morgen nichts anderes hören von Freidemokraten, führenden Freidemokraten als: "Das war eine sehr gute Rede, er hat alles das erbracht, was wir uns von ihm erhofft haben." Aber wissen Sie, der Liberale möchte auch stolz auf Liberalismus sein, und wenn die FDP für sich in Anspruch nimmt, die einzige liberale Partei in Deutschland zu sein, dann erfordert das mehr als, sagen wir, die Beschreibung des Ist-Zustands. Man muss dann schon auch etwas Programmatisches bieten. Er hat einen Satz gesagt, den will ich Ihnen noch vortragen, den habe ich mir aufgeschrieben: "Aus einer Datenflut ..." - da ging es um Vorratsdatenspeicherung, da sind wir Journalisten natürlich an seiner Seite, aber: "Aus einer Datenflut wird eben noch kein Informationsgewinn." Das fand ich irgendwie einen interessanten Satz in der Zusammenfassung all dessen, was er da gemacht hat: Er hat über alles Mögliche gesprochen, über alles Mögliche, aber aus einer Daten- oder aus einer Themenflut wird noch kein Informationsgewinn. Wichtig ist, dass die führenden Politiker es sich gar nicht leisten können, ihn jetzt fallen zu lassen. Keiner will, wie damals Guido Westerwelle im Fall von Wolfgang Gerhardt, auch schon ewige Jahre her, keiner will der Brutus sein, denn die alte Geschichte ist: Der Königsmörder wird nicht der König.

    Moderator: Stephan-Andreas Casdorff, Chefredakteur des Berliner "Tagesspiegel", die Fragen stellte mein Kollege Jonas Reese.