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Logikbesessenheit, Hypochondrie und Paranoia

Der Jahrhundertmathematiker Kurt Gödel galt als verschrobener, unnahbarer und wortkarger Mensch. Am Institut for Advanced Study in Princeton war er wie auch Albert Einstein nach der Flucht vor den Nazis mit offenen Armen empfangen worden. Der US-amerikanischen Philosophieprofessorin und Schriftstellerin Rebecca Goldstein ist es gelungen, das Leben des Mathematikers genau zu verfolgen.

Von von Matthias Eckoldt | 19.10.2006
    Es ist Spätsommer in einer Kleinstadt in New Jersey. Zwei Männer schlendern, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, eine abgelegene Straße entlang und unterhalten sich leise. Das dichte Kronendach der Bäume über ihren Köpfen beschirmt sie vor der Sonne. Stattliche alte Häuser stehen weit zurückgesetzt von der Straße, während sich auf der anderen Seite, unmittelbar hinter den Ulmen, der üppig grüne Rasenteppich eines Golfplatzes erstreckt.

    So romanesk beginnt das Buch von Rebecca Goldstein über Kurt Gödel, der im Untertitel als Jahrhundertmathematiker und großer Entdecker apostrophiert wird. Die Kleinstadt, in der die beiden Spaziergänger fast täglich unterwegs waren, heißt Princeton und war Anfang der vierziger Jahre ein Mekka interdisziplinärer Forschung. Viele vor Hitler geflohene Geistesgrößen wurden am dortigen Institut for Advanced Study mit offenen Armen empfangen. So auch Kurt Gödel und sein Begleiter Albert Einstein.

    Rebecca Goldstein kommt in ihrem Buch immer wieder auf die Spaziergänger zurück, obwohl außer der Route und der Kleidung der beiden Wissenschaftler kaum etwas überliefert ist. Raum für Spekulationen also: Warum suchte der Megastar der modernen Physik ausgerechnet die Nähe des verschrobenen, unnahbaren, wortkargen Mathematikers um die Dreißig, der seine Kollegen am Institut durch sein Auftreten so nachhaltig irritiert hatte, dass sie ihn nach Möglichkeit mieden? Was reizte Einstein am Disput mit dem zur Paranoia neigenden Logik-Genie so sehr, dass er im Alter, als ihm seine eigene Arbeit nicht mehr viel bedeutete, nach eigener Aussage lediglich ins Institutsgebäude kam, "um das Privileg zu haben, mit Gödel zu Fuß nach Hause gehen zu dürfen"?

    Rebecca Goldstein findet in ihrem Buch eine sehr interessante Antwort auf diese Fragen in der Erkenntnistheorie der beiden Ausnahmewissenschaftler: Sowohl die Gödel'schen Unvollständigkeitssätze als auch die Einstein'sche Relativitätstheorie erschütterten das auf objektive Erkenntnis gerichtete Wissenschaftsideal ihrer Zeit. Trotzdem aber hielt Gödel ebenso wie Einstein an der prinzipiellen Möglichkeit objektiver Erkenntnis fest.

    Für beide Männer besteht die Methodik ihrer jeweiligen Fachgebiete nicht aus willkürlichen Regeln, die ein komplexes Denk- oder Sprachspiel steuern, das ebenso gut nach völlig anderen Regeln gespielt werden könnte, die zu einer völlig anderen Deutung der Wirklichkeit führen würden. Nein, für beide Denker sind dies die Regeln, die unseren Intellekt über die Begrenztheit der persönlichen Erfahrung hinausführen und ihm Zugang zu Aspekten der Wirklichkeit verschaffen, die sich anderenfalls unserem Erkenntnisvermögen entziehen würden.

    Rebecca Goldstein fühlt sich sichtlich wohl in der Reflektion, aber sie versteht es auch, harte Fakten zu präsentieren. Präzise zeichnet sie den Lebensweg von Kurt Gödel nach. Besonders jenen 7. September 1930 hat sie ausführlich recherchiert. Das war der Tag, an dem Kurt Gödel seinen Unvollständigkeitsbeweis auf einem Mathematiker-Kongress ankündigte.

    Erst am letzten Tag der Konferenz ließ Gödel die Bombe platzen. Er wartete bis gegen Ende der Tagung und erwähnte dann in einem einzigen kristallklaren Satz, dass es wahre, aber unbeweisbare arithmetische Sätze gebe.

    Der 24-jährige zündet eine Bombe im Kreise seiner Kollegen und kurioserweise hört es niemand. Vielleicht spielte das Alter des Referenten eine Rolle, vielleicht aber auch dessen Vortragsweise. Gödel verabscheute jede Form der Theatralik und ging sicher davon aus, dass es vollauf genügte, in wenigen Worten die Quintessenz seiner Überlegungen zusammenzufassen, damit die Mathematiker verstanden, von welch bahnbrechender Entdeckung hier die Rede war. Doch dem war nicht so. Erst mit der Veröffentlichung des Unvollständigkeitsbeweises kam die Ungeheuerlichkeit des Gödel'schen Gedankengangs in der scientific community an: Die Mathematik - durch einen elegant geführten zwanzigseitigen Beweis eines gerade dem Studentenalter entwachsenen jungen Mannes - entzaubert worden. Rebecca Goldstein zeichnet Gödels Beweis für den vorgebildeten Laien nach und macht ihn zugleich für jeden Interessierten verständlich:

    Die Grundstrategie lässt sich im Rahmen der ältesten Paradoxie überhaupt verstehen. Nach der Überlieferung wird die Antinomie des Lügners dem Kreter Epimenides zugeschrieben, der sinngemäß gesagt haben soll: Alle Kreter lügen. Dieser Satz als solcher ist nicht paradox, außer insofern er andeutet, dass Epimenides etwas sagen wollte wie: Dieser Satz ist falsch! Dieser Satz nun ist genau dann wahr, wenn er falsch ist - logisch gesehen eine ziemlich unangenehme Situation. Gödel betrachtet nun im Rahmen seiner Beweisführung eine Analogie zu diesem paradoxen Satz, nämlich die Aussage: Dieser Satz lässt sich innerhalb dieses Systems nicht beweisen.

    Das nach dem bedeutendsten Mathematiker des beginnenden 20. Jahrhunderts benannte Hilbert-Programm strebte eine widerspruchsfreie Begründung der gesamten Mathematik an. Dieses weltweite Projekt endete über Nacht mit Gödels Unvollständigkeitsbeweis. Nun war in der Sprache der Mathematik formuliert, dass die Widerspruchsfreiheit des formalen Systems der Mathematik innerhalb dieses Systems nicht bewiesen werden kann.

    Die US-amerikanische Philosophieprofessorin und Schriftstellerin Rebecca Goldstein verfolgt das Echo des Gödel'schen Unvollständigkeitssatzes bis in die Philosophie, die Literatur und die Forschungen zur künstlichen Intelligenz. In diesen Passagen verliert die Autorin leider wiederholt den Kontakt zu ihrem im Cover angekündigten Helden - Kurt Gödel.

    Besonders das gut fünfzigseitige Kapitel über den Wiener Kreis und Ludwig Wittgenstein wirkt wie ein in einem anderen Zusammenhang erarbeitetes Referat. Dabei hätte das Buch weder vom Umfang noch von der Komplexität her derartige Auffüllung benötigt. Umso versöhnlicher stimmt dann das Schlusskapitel, in dem Gödels letzte Jahre nachgezeichnet werden. Dass der innere Zusammenhang von Logikbesessenheit, Unvollständigkeitsbeweis, Hypochondrie und Paranoia letztlich nicht hergestellt wird, kann wohl der Autorin nicht vorgeworfen werden. Der abweisende und geradezu grillige Kurt Gödel, der nach Einsteins Tod noch weiter vereinsamte, hatte durch seine Verschlossenheit selbst dafür gesorgt, dass er der Mit- und Nachwelt ein Rätsel bleiben sollte. Er starb am 14. Januar 1978. Rebecca Goldstein zitiert einen Schüler Gödels:

    Angeblich wog Gödel vor seinem Tod nur noch knappp 30 Kilo, und kurz vor dem Ende entwickelte er eine klassische paranoide Symptomatik: Aus Angst vor Vergiftung hungerte er sich freiwillig zu Tode.