Kulturjahr 2017

Krawall und Lyrik - das Bücherjahr im Rückblick

Eine Besucherin steht auf der Leipziger Buchmesse 2017 vor einem Regal mit Büchern.
Eine Besucherin steht auf der Leipziger Buchmesse 2017 vor einem Regal mit Büchern. © dpa / picture alliance / Jens Kalaene
Kolja Mensing und René Aguigah im Gespräch mit Andrea Gerk · 21.12.2017
2017 war ein turbulentes Jahr für das literarische Leben: Auseinandersetzungen mit Rechts bestimmten das Geschehen, etwa auf der Frankfurter Buchmesse. Aber auch die Romane waren politisch wie lange nicht mehr. Unsere Kritiker Kolja Mensing und René Aguigah blicken zurück.
In diesem Jahr zeigte sich die Frankfurter Buchmesse als Spiegel der gesellschaftlichen Debatten und politischen Gemengelange im Land. Literaturkritiker Kolja Mensing und Sachbuch-Experte René Aguigah fassen die Entwicklung seit dem Erscheinen von "Finis Germania" im rechten Antaios-Verlag im Sommer bis zur handfesten Eskalation zwischen linken Aktivisten und Mitgliedern der identitären Bewegung auf der Frankfurter Buchmesse nochmals zusammen.
"Finis Germania ist ein mittelmäßig geschriebenes Buch von einem mittelbekannten Historiker, das Verlagschef Götz Kubitschek neu verpackt und gut lanciert hat", erklärt Aguigah. Erst als es auf der NDR-Sachbuchbestenliste aufgetaucht sei, sei das Buch und damit der Verlag in der Buchwelt sehr, sehr sichtbar geworden.
In Frankfurt stand jedoch "Mit Rechten reden. Ein Leitfaden" von Per Leo, Maximilian Steinbeis und Daniel-Pascal Zorn im Zentrum der Diskussion. "Das Witzige dabei ist: Es ist gar kein Leitfaden sondern es ist eigentlich eine Maschine, die das eigene Gehirn in Denken bringt, ob und wenn ja falls ich mich politisch auseinandersetzen möchte", meint Aguigah.
Daniel-Pascal Zorn live auf der Frankfurter Buchmesse
Daniel-Pascal Zorn live auf der Frankfurter Buchmesse© Deutschlandradio / David Kohlruss
Während der Antaios-Verlag mit der Abrechnung "Mit Linken leben" reagierte - Rechtssympathisantin Caroline Sommerfeld schreibt über ihre Ehe mit dem altlinken Kulturwissenschaftler Helmut Lethen - wurde "Finis Germania" von der NDR-Sachbuch-Bestenliste gestrichen und diese gleich eingestellt. Als Folge gründete Deutschlandfunk Kultur zusammen mit ZDF und "Die Zeit" eine neue Sachbuch-Bestenliste, die Bücher ins Schaufenster stellen will, die gesellschaftliche Debatten bündeln.

Eine verrückte Wendung zur Literatur

Genau in diese Kategorie fällt auch der EU-Roman "Die Hauptstadt", für den Robert Menasse mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Wobei die Frage ist, ob es sich hier tatsächlich um Literatur oder um ein verkapptes Sachbuch handelt. Für Kritiker Kolja Mensing ist klar: "Ja, das ist ein Roman." Schließlich gebe es eine ausgedachte Handlung.
Robert Menasse hält eine Zigarette in der Hand und schaut in die Kamera.
Robert Menasse© dpa / picture alliance / Arne Dedert
"Aber es beruht letztlich auf Sachbüchern, die Robert Menasse in den Jahren vorher veröffentlich hat." Die Thesen aus "Der europäische Landbote" über die moralische Begründung der EU aus dem Geist des Holocausts tauchten in seinem Roman wieder auf. "Das ist eine verrückte Wendung eigentlich. Umso verrückter, dass es auch noch funktioniert."
"Wenn man etwas Positives daraus ziehen will und jetzt nicht so skeptisch fragen will, ist dieser Roman Literatur für die Ewigkeit, dann muss man immerhin sagen, dass Bücher es offensichtlich doch noch schaffen, Debatten zu bündeln", findet René Aguigah.

"Romane tragen politische Debatten in die Wohnzimmer"

Für Literaturkritiker Mensing ist es jedoch ein "gewisser Triumph, dass es Romane, also Belletristiktitel, sind, die die großen Debatten und Themen, die wir im Feuilleton verhandeln, als Romane nochmal stark machen und in die Haushalte tragen." Bestes Beispiel dafür sei "Altes Land" von Dörte Hansen, das sich schon 2016 als Hardcover 400.000 mal und 2017 noch mal als Taschenbuch 300.000 mal verkauft habe.
Diese Geschichte über eine alleinerziehende Mutter, die mit Ihrer Tochter auf Land zieht und dort beginnt, sich mit ihrer Familiengeschichte zu beschäftigen, arbeite schwierige Themen wie Kriegskinder, Kriegsenkel und die transgenerationelle Übertragung von Traumata in Romanform nochmals auf und bringe sie dahin, wo sie hingehörten: zu den Menschen ins Wohnzimmer, wo dann eine leise oder stille Debatte geführt werde. Nicht so laut wie in den Feuilletons."
Wie Natascha Wodin, die mit ihrem Memoir "Sie kam aus Mariupol" den Leipziger Buchpreis gewonnen hat, und David Wagner mit seinem autobiografischen Roman "Leben" verwischt Hansen die Grenzen von Literatur und Sachbuch. "Vielleicht ist es sogar so, dass sich Bücher, die sich auf der Grenze zwischen Fiction und Nonfiction bewegen ganz besonders geeignet sind, relevante Debatten zu bündeln", glaubt Mensing.
Gewinnerin des Preises der Leipziger Buchmesse 2017: Natascha Wodin.
Die Schriftstellerin Natascha Wodin.© imago stock&people
Auch, dass der Büchnerpreis in diesem Jahr an den Lyriker Jan Wagner gegangen ist, begrüßt Kolja Mensing ausdrücklich. Denn mit ihm habe die deutsch-sprachige Lyrik ein Gesicht bekommen. Unbedingt lesen solle man Wagners "Regentonnenvariationen": "Das ist ein Buch, das wirklich jeder lesen kann. Das können Einsteiger lesen und Lyrikprofis haben genauso viel Spaß daran."
(sel)

Per Leo, Maximilian Steinbeis, Daniel Pascal Zorn: "mit Rechten reden. Ein Leitfaden"
Verlag Klett-Cotta
183 Seiten, 14 Euro

Rolf Peter Sieferle: Finis Germania
Antaios Verlag, Steigra 2017
104 Seiten, 8,50 Euro

Robert Menasse: "Die Hauptstadt"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017
460 Seiten, 24,00 Euro

Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol
Rowohlt, Hamburg 2017
368 Seiten, 19,95 Euro

Jan Wagner: Regentonnenvariationen. Gedichte
Hanser Berlin, Berlin 2014
97 Seiten, 15,90 Euro

Dörte Hansen: Altes Land
Albrecht Knaus Verlag, 2015
288 Seiten, 19,99 Euro

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