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London Royal National Theatre
Von zerschmetterten Träumen

Intrigen, Korruption und zerschmetterte Träume: Mit "Behind the Beautiful Forevers" bringt David Hares das gleichnamige Buch von Katherine Boo über das Leben in einem indischen Slum auf die Bühne. Ein Meisterwerk in der Tradition der literarischen Sozialkritik Charles Dickens'.

Von Ulrich Fischer | 19.11.2014
    Mädchen in einem Slum bei Neu Delhi, Indien
    Die Bewohner des Slums sind arm, der Kampf ums tägliche Brot zehrt sie auf. (SAJJAD HUSSAIN / AFP)
    "Behind the Beautiful Forevers", der Titel von David Hares neuem Stück, ist schwer zu übersetzen. Hare stützt sich auf das gleichnamige Buch von Katherine Boo, das auf Deutsch unter dem Titel "Annawadi oder der Traum von einem besseren Leben" erschienen ist - den Titel könnte man auch gut auf das Stück übertragen.
    "The Beautiful Forevers" spielt in Indien, in Annawadi. So heißt ein Slum in der Nähe von Mumbais Flughafen. Hier lebt Abdul, die Zentralfigur, mit seiner Familie, seinen Freunden und Konkurrenten.
    Abdul dürfte so zwischen 15 und 19 sein, genau weiß das keiner, seine Eltern hatten Wichtigeres zu tun, als sich um eine Geburtsurkunde zu kümmern. Sie sind arm, der Kampf ums tägliche Brot zehrt sie auf. Abdul ist tüchtig, er arbeitet im Müllgeschäft.
    Dann beginnt die Katastrophe. Weil Abdul Erfolg hat, kann seine Mutter einen Arbeitstisch für die Küche anschaffen, ein unerhörter Luxus. Eine Nachbarin wird neidisch, es gibt Streit.
    Die Nachbarin spinnt eine Intrige - und Abdul landet im Gefängnis.
    Bis Abdul befreit wird, ist Gelegenheit, das ganze System im Slum kennenzulernen: Im Mittelpunkt steht die Korruption. Alles ist käuflich - und wenn Abduls Mutter möchte, dass ihr Sohn nicht täglich brutal von der Polizei im Gefängnis misshandelt wird, so hat das seinen Preis. Oder das Gutachten einer Sozialarbeiterin. Oder Zeugenaussagen.
    Mangel an Komplexität wird durch Prägnanz aufgewogen
    Das ganze System ist zerfressen von Korruption, dazu kommt noch der Gegensatz zwischen Hindus und Muslimen - und der von Mann und Frau.
    Die Gegensätze bieten dem Stückeschreiber eine Fülle von Gelegenheiten für dramatische Szenen. Das Stück ist außerordentlich reich, auch üppig besetzt: Über 30 Schauspieler treten auf.
    Abdul ist intelligent und fleißig, mutig verteidigt er seine Stellung und hält loyal zu seiner Familie - aber es gelingt ihm nicht aufzusteigen. All die Freunde und Schicksalsgenossen, die seinen Lebensweg begleiten, träumen von einem besseren Leben: Keine und keiner schafft es. Der Neoliberalismus, so die niederschmetternde Bilanz, bietet zwar einen Traum von einem anderen Leben - aber keine Verwirklichung dieses Traums.
    Die Charaktere wirken lebendig und liebenswert, die Handlung ist spannend, berührend, der Dialog klug gestaltet. Hare gibt seinen Erniedrigten und Beleidigten ganz kurze Sätze, manchmal nur drei, vier Worte. Der Mangel an Komplexität wird durch Prägnanz mehr als aufgewogen. Beim Streit fliegen unflätige Beschimpfungen durchs Theater, Four-Letter-Words, really shocking. Manchmal bleibt dem Publikum die Spucke weg, häufiger aber wird gelacht. David Hare ist mal wieder ein Meisterwerk gelungen.
    Rufus Norris, der designierte künstlerische Leiter des Royal National Theatres, stellte sich bei seiner Uraufführungsinszenierung ganz in den Dienst des Autors und des Stücks, aber er hat nicht das Feuer David Hares - die Inszenierung bleibt hinter dem Stück zurück, sie wirkt zu behäbig. Das Ensemble spielte engagiert und war brillant. Sir David hat ein Faible für weibliche Figuren, deshalb glänzten vor allem die Schauspielerinnen.
    Die Uraufführung stellt sich sichtlich in die Tradition der literarischen Sozialkritik von Charles Dickens - eine Tradition, die die ganze Welt bewundert.