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Lorenz S. Beckhardt
Der Jude mit dem Hakenkreuz. Meine deutsche Familie.

Von Silke Nauschütz | 26.01.2015
    Lorenz Beckhardt ist 18 Jahre alt, als er zufällig erfährt, dass er eine jüdische Familie hat. Es ist das Jahr 1972. Beckhardt, von seinen Eltern katholisch erzogen, ist inzwischen bekennender Barrikadenlinker und will den Wehrdienst verweigern. Als er das auf der Familienfeier verkündet, weist ihn ein Verwandter darauf hin.
    "Dass ich als Kind von Naziverfolgten doch gar nicht zur Bundeswehr gehen müsse und ich bei dem Begriff Kind von Naziverfolgten ja aus allen Wolken gefallen bin. Dann habe ich angefangen, meinen Eltern Fragen zu stellen, und dann kam einiges auf den Tisch."
    Der Tisch ist voller nicht erzählter, verdrängter, verschwiegener Familiengeschichte: Sie wird das Leben von Lorenz Beckhardt nicht mehr loslassen. Was wusste er bis zu diesem Zeitpunkt über seine Familie? Vater Kurt hatte ihm etwas über dessen eigene Kinderverschickung nach England während des Zweiten Weltkrieges erzählt. Über seinen Vater, Fritz Beckhardt, wusste er Umtriebiges zu berichten, einen erfolgreichen und überaus beliebten Lebensmittelladenbesitzer im Wiesbadener Stadtteil Sonnenberg und ein Mann von Welt. Noch höher aber, so erzählte Kurt Beckhardt seinem Sohn einmal, schlug Fritz Beckhardts Herz aber für Deutschland und die Jagdfliegerei. Der Kleinunternehmer war begeisterter Pilot im Ersten Weltkrieg.
    "Natürlich wusste ich, dass er das Geschäft betrieben hat, was dann später meine Eltern betrieben haben, aber irgendwann fiel dann mal der Satz von meinem Vater: Der Opa ist mit dem Göring im Ersten Weltkrieg geflogen. Der war ein Kriegsheld, der war ein Fliegerheld, der war was Tolles, der war berühmt."
    Ein Nazi war der Großvater also, so der erste Rückschluss des Enkels. Was Lorenz Beckhards Vater Kurt aber verschwieg: Sein Vater Fritz war nicht nur im Geschwader von Herrmann Göring, später einer der größten Nazi-Kriegsverbrecher, Fritz kam im Ersten Weltkrieg als jüdischer Jagdflieger auch zu höchsten militärischen Ehren. An seinem Flugzeug hing ein geschenkter Glücksbringer, ein Hakenkreuz als Emblem, lange noch bevor es die Nazis zu ihrem Symbol machten. Lorenz Beckhardt ist verwirrt. Ein Jude mit einem Hakenkreuz? Seine Familie Verfolgte des Naziregimes? Beckhardt will mehr wissen und reist nach Israel, nach Auskunft seines Vaters leben dort Verwandte. Er kommt dort an als, wie er erzählt, junger Chemiestudent voller linker Klischees über den Nahostkonflikt.
    "Ich kann von Glück sagen, dass mich meine Verwandtschaft nicht sofort wieder ins Flugzeug gesetzt und zurück nach Deutschland geschickt hat, sondern dass sie gesehen haben, dass ich ein junger Mann bin, dessen Weltbild noch im Werden ist. Und damit haben sie ja auch Recht gehabt."
    Immer mehr Fragen drängen sich ihm auf. Warum ist er, obwohl Jude, katholisch aufgewachsen? Warum wurde ihm seine Herkunft verschwiegen? Warum lebten die Eltern nicht als bekennende Juden in Deutschland? Was war passiert mit der Familie in der Zeit des Nationalsozialismus' und was nach 1945? Beckhardt beginnt, akribisch zu recherchieren, sitzt monatelang in Stadtarchiven und befragt Verwandte. Er erfährt, dass sein national eingestellter Großvater Fritz nach 1933 sein Geschäft abgeben musste, nachdem die Nazis zum Boykott gegen jüdische Geschäfte aufgerufen hatten. Denn auch der einstige Kriegsheld wurde nun gemieden. Doch Fritz Beckhardt hielt sich noch lange für unantastbar.
    Der jüdische verheiratete Mann unterhielt eine Beziehung zum Dienstmädchen der Familie, einer Nicht-Jüdin. Der Patriot Beckhardt kam wegen Rassenschande ins Konzentrationslager Buchenwald. Seine Frau, die um das Verhältnis wusste, sah die Gefahr und schickte die Kinder nach England. 1940 kam Fritz aus dem KZ frei, zu diesem Zeitpunkt ein Wunder, Herrmann Göring, so hat der Autor recherchiert, soll dem alten Mitkämpfer und Jagdflieger Beckhardt geholfen haben. Die Familie überlebte den Krieg in England, hatte es dort gut. Zurückgebliebene Verwandte wurden in den Konzentrationslagern der Nazis ermordet. Doch Fritz Beckhardt wollte - für seinen Enkel Lorenz noch heute unfassbar naiv - nach dem Krieg zurück ins Vaterland.
    "Er ist nach Deutschland zurückgekehrt, einerseits, weil er natürlich davon ausgegangen ist, weil man ihm gesagt hat, er bekomme sein Hab und Gut wieder zurück, Haus, Geschäft. Sodass er davon ausgegangen ist, er könne wieder eine Existenz aufbauen, ähnlich, wie er die vor der Nazizeit gehabt hat. Weil er überhaupt nicht in Betracht gezogen hat, dass der antijüdische Boykott, den die Nazis im April 1933 initiiert hatten, dass der womöglich noch über den Krieg hinausdauern würde."
    Lorenz Beckhardt beschreibt analytisch, aber auch mit Sarkasmus und leiser Wut, wie die Familie im Nachkriegsdeutschland jahrzehntelang um Entschädigung und Anerkennung kämpfen musste. Die Verfolgten mussten ihren Leidensweg nachweisen. An den Schaltstellen saßen dieselben Leute, die sich an jüdischem Eigentum bereichert hatten, die Familie gedemütigt und bei deren Abtransport ins KZ zugesehen hatten.
    Beckhardt benennt sie in seinem Buch und hält die Lupe auf den kleinen Ort Sonnenberg, in dem auch Jahre nach dem Krieg Menschen die Schaufenster des großelterlichen Ladens einwarfen. Längst hat Lorenz Beckhardt das Verstecken seiner Familie hinter einem katholischen Glauben verstanden. Die Eltern wollten ihm das Trauma, dass sie nach dem Krieg in Deutschland erleben mussten, ersparen.
    Mit seinem Buch "Der Jude mit dem Hakenkreuz" hat er nun das Schweigen gebrochen. Es ist ein sehr persönliches Zeitzeugnis. Lorenz Beckhardt präsentiert eine Nahaufnahme des Antisemitismus in Deutschland, dessen Geschichte und Ausmaße. Und er setzt seiner Familie nicht nur ein Denkmal, sondern erzählt auch sehr emotional, wie er zu seinen jüdischen Wurzeln zurückgefunden hat.
    "Der Mohel hält den Füllfederhalter schwebend über dem Formular und sieht meinen Vater über den Brillenrand fragend an. Yehuda ben Joseph, antwortet Kurt. Erstaunt sehe ich meinen Vater an. Yehuda, Sohn des Joseph. Wenn Kurt einen jüdischen Namen trägt, dann besaß auch Fritz einen solchen, den er sicher weder gemocht noch je benutzt hat. Man Großvater, der Jude mit dem Hakenkreuz hat demnach - wie es die rabbinische Tradition fordert - am achten Tag nach seiner Geburt den Namen Joseph ben Abraham erhalten. Und mein Name ist Schlomo. Schlomo ben Yehuda."
    Buchinfos:
    Lorenz S. Beckhardt: "Der Jude mit dem Hakenkreuz. Meine deutsche Familie", Aufbau Verlag, 480 Seiten, Preis: 24,95 Euro, ISBN: 978-3-351-03276-0