Donnerstag, 28. März 2024

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Lost Boys - Die Verlorenen des Sudan

Valentino Achak Deng ist einer jener sogenannten "Lost Boys”, die im zweiten sudanesischen Bürgerkrieg 1987 aus ihren zerstörten Dörfern flohen. Sie traten einen 1000-Meilen-Marsch durch Westafrika an und verbrachten die folgenden Jahre in äthiopischen und kenianischen Flüchtlingslagern, bis 4000 von ihnen, darunter Deng, Flüchtlingsvisa erhielten und in verschiedene amerikanische Städte geschickt wurden. Deng landete in Atlanta. Seine Geschichte wird hier fiktiv-faktisch erzählt.

Rezensiert von Sacha Verna | 23.01.2009
    Dave Eggers ist ein literarischer Wohltäter. Vor acht Jahren erschien sein Erstling mit dem Titel "Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität” und wurde zum Bestseller. Seither gründet, unterstützt und bewirbt der amerikanische Autor unermüdlich Projekte, die zum Gedeihen des Wortes in dieser Welt beitragen sollen, von exzentrischen Literaturzeitschriften bis zu Stiftungen zur Leseförderung. Dave Eggers' jüngstes Unterfangen ist die Herausgabe einer Serie von Augenzeugenberichten aus Orten, in denen die Hölle los ist, sei es New Orleans oder Bagdad. An Stoff dürfte es kaum fehlen.
    "Weit gegangen” bildet gleichsam den Anfang dieser Serie, obgleich das Buch keineswegs als solcher geplant war und künftige Krisenherd-Stories sich vielleicht in ganz anderer Form präsentieren werden. "Weit gegangen” ist ein Roman und eine Autobiografie. Es ist die Lebensgeschichte von Valentino Achak Deng, erzählt von Dave Eggers. Sie beginnt im Süden Sudans und endet in den Vereinigten Staaten. Dazwischen liegen dreizehn Jahre nacktes Grauen und weitere Jahre der Desillusionierung im Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
    Valentino Achak Deng ist einer jener sogenannten "Lost Boys”, die im zweiten sudanesischen Bürgerkrieg 1987 aus ihren zerstörten Dörfern flohen. Sie traten einen 1000-Meilen-Marsch durch Westafrika an und verbrachten die folgenden Jahre in äthiopischen und kenianischen Flüchtlingslagern, bis 4000 von ihnen, darunter Deng, Flüchtlingsvisa erhielten und in verschiedene amerikanische Städte geschickt wurden. Deng landete in Atlanta.
    "Ich habe keinen Grund, die Tür nicht aufzumachen, also mache ich die Tür auf”, lautet der erste Satz von "Weit gegangen”. Die Tür ist die von Dengs Wohnung in Atlanta, und das Paar, dass ihn demnächst zusammenschlagen, fesseln und ausrauben wird, ist Amerika. Ist auch Amerika. Dengs alias Dave Eggers' Perspektive ist zwangsläufig die von unten. Ob Deng blutend und unbeweglich auf dem Boden seines Wohnzimmers in Atlanta liegt und den Einbrechern beim Abräumen zuschaut oder ob er im Buschgras vor schiesswütigen Milizmännern Deckung sucht – der Ich-Erzähler befindet sich hier immer in der Opferrolle.
    Opfer lassen sich schwer kritisieren. Das Gutbuch von einem Gutmenschen lässt sich schwer kritisieren. Erst recht, wenn der Erlös daraus sudanesischen Flüchtlingen und dem Wiederaufbau von Dengs Heimatdorf zugute kommt. Oder soll man sich über mangelnde Raffinesse in einer Passage beklagen, in der ein Junge von einem Löwen gefressen wird? Soll man ausgerechnet dort stilistische Glanzzstücke erwarten, wo Deng von seinem Studium träumt, zu dem er kaum Zeit hat, weil er sich für einen Hungerlohn in einem amerikanischen Fitnessclub abrackern muss? Darf man von den Herren Deng und Eggers verlangen, dass sie Horror und Ungerechtigkeit bitteschön ein hübsches Häubchen aufsetzen? Nein, vermutlich nicht.
    "Weit gegangen”, dieser fiktiv-faktische Zwitter, basiert auf unzähligen Interviews, die Dave Eggers mit Valentino Achak Deng geführt hat. Der Autor sei seiner Stimme möglichst treu geblieben und habe auf wichtigen Ereignissen seines Lebens aufgebaut, versichert Deng im Vorwort. Die Mittel der Literatur kommen in rekonstruierten Dialogen zum Tragen, in Figuren, die sich aus mehreren zusammensetzen, in der Bündelung von Geschehnissen und der Hervorhebung anderer, im Spannungsbogen und im dramatischen Aufbau.
    Dave Eggers ist von Natur aus ein gewandter Tänzer auf literarischen Metaebenen und ein süffisanter Satiriker. Gimmicks fehlen in "Weit gegangen” freilich völlig. Ironischerweise kommentiert sich dieses Buch an manchen Stellen dennoch gewissermaßen selber: "Als ich in dieses Land kam”, so Deng/Eggers einmal, "erzählte ich erst stumme Geschichten.” Er fährt fort: Er habe Menschen, die sich vor ihm in die Schlange mogelten, von dem Jungen erzählt, der starb, nachdem er noch fast rohes Elefantenfleisch gegessen hatte, oder von den Zwillingsschwestern, die von arabischen Reitern verschleppt wurden. Und er, Deng, erzähle diese Geschichten immer noch, und er wolle, dass jedermann sie höre. Illustriert diese Passage nicht genau das, was Eggers und Deng mit "Weit gegangen” bezwecken? Nämlich dafür zu sorgen, dass Dengs Geschichten von jedermann gehört werden oder wenigstens von vielen gelesen?
    Es bleibt die Frage, als was denn nun "Weit gegangen” reüssiert, und ob überhaupt. Als literarisches Werk? Als Dokumentation? Als Aufforderung, endlich hinzuschauen? Als Feierabendvergnügen oder als Lehrstück? Sicher ist, dass man nach der Lektüre dieses Buches sehr viel mehr weiß über die Schrecken des sudanesischen Bürgerkriegs als zuvor. Die "Lost Boys”, die "verlorenen Jungen”, sind keine gesichtslose Kinderschar mehr, sondern Menschen mit individuellen Schicksalen. Sicher ist auch, dass "Weit gegangen” Längen hat. Dass man sich manchmal weniger Pathos wünscht und der Deng-Eggers'sche Tiefsinn über den Kosmos im Allgemeinen und das Erdendasein im Besonderen einem gelegentlich einen ontologischen Schluckauf verursacht. Und dass gerade ein Roman, jedenfalls ein gelungener Roman über derlei Schwächen erhaben sein sollte, aller Wirklichkeitsnähe zum Trotz.

    Dave Eggers: Weit gegangen. Das Leben des Valentino Achak Deng. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2008. 767 Seiten. 24.95 Euro. 43.70 Franken.