Donnerstag, 25. April 2024

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Lovers Club. Eine Stimme aus dem Off

"Die Bleierne Zeit" - so hieß ein Film Margarethe von Trottas über die RAF. Gemeint war wohl eine Zeit des Schießens, der bleihaltigen Luft, zugleich aber vermittelt dieser Titel sehr sprechend die Atmosphäre der 70er Jahre. Diese Phase der bundesrepublikanischen Wirklichkeit war von Stagnation und Lähmung erfüllt, die Freiheitsversprechen der Endsechziger hatten sich als trügerisch erwiesen. Alles war zurück gefallen in den quälend gleichen Trott, man versank in Subjektivität und eigenen Befindlichkeiten. Von daher erscheint es nicht allzu verwunderlich, dass Literatur oder autobiografische Rückblicke diese Epoche weitgehend ausblenden.

Enno Stahl | 17.03.2003
    Den Versuch, diese eigentümliche Zeit wieder herauf zu beschwören, unternimmt Bodo Holland-Moritz in seinem Buch "Lovers Club. Eine Stimme aus dem Off". Der Untertitel spricht von diesem Vergessen: einer, der in diesen unbekannten Tagen gelebt hat, ein Augenzeuge meldet sich zu Wort. Er berichtet aus einem Vakuum, aus einem längst vergessenen Bereich, der umgewertet, ad acta gelegt wurde. Seine Stimme vergewissert sich der eigenen Vergangenheit, ein quasi somnambules Erinnern, das keine Geschichte erzählt, sondern von einem suggestiven Bild ins nächste übergleitet. Holland-Moritz zeigt das Aufwachsen in der Provinz, in Solingen, einem grauen Ort, der keinen echten Platz zum Leben lässt. Und dennoch gab es etwas, die örtliche Sub-Kneipe, die Fahrten in die angrenzenden Großstädte Köln und Düsseldorf, die Joints im Wagenfond und immer wieder - Musik.

    Die 70er Jahre gelten oft als stillos, dabei nahmen hier so bedeutende Karrieren wie die Velvet Undergrounds, Roxy Musics oder David Bowies ihren Anfang, brachte Punk Ende des Jahrzehnts den ersehnten, endgültigen Einschnitt. Glamrock, T-Rex, Can, Captain Beefheart und Frank Zappa prägten diese Zeit, und alles das kommt bei Holland-Moritz wieder hoch.

    Sein Text ist in der dritten Person geschrieben, was ihm eine gewisse Distanz verleiht, zugleich ist es eine Form von Bauch-Literatur, die Worte entstehen aus sich selbst, bisweilen kommt es zu schönen Wendungen und Sequenzen. Doch diese Methode ist immer eine Gratwanderung und manchmal schleichen sich Platitüden ein, Innerlichkeiten, so sehr der Autor sich auch bemüht, sie zu unterdrücken. Nicht umsonst ist es ein Merve-Buch, diese Erinnerungsschau ist trotz ihrer Bilderfülle Resultat einer Reflexion, einer Neu- und Wiederbewertung aus der Entfernung heraus. Daher fließen bisweilen deutende Zitate von zeitgenössischen Theoretikern ein, insbesondere aus dem Merve-Kontext, die für Objektivität bürgen sollen. Das umreißt die geistes- und literaturgeschichtliche Tradition, in die Holland-Moritz sich stellt.

    Besonders deutlich wird das im zweiten Part des Buches, "Gothic City-Implikationen", der sich statt der Vergangenheit der kühlen Urbanität der Jetztzeit widmet. Hier wird Rolf-Dieter Brinkmann als Zeuge benannt, William S. Burroughs, Jürgen Ploog, und auch Holland-Moritz' Schreiben ist in diesem Kapitel eher einem halluzinogenen Cut-Up-Stil verpflichtet. Der dritte Teil des Buches richtet sich dagegen auf die Zukunft, in etwas verklausulierter Form. Er beginnt als fiktive Ausstellungskritik, als Vortrag eines nicht näher bezeichneten "Prospektors". Dieser beschreibt tatsächliche oder angebliche Arbeiten postkolonialer Künstler, immer mehr geht der Text über zur visionären Zukunftsschau, er äußert Prognosen möglichen gesellschaftlichen Zusammenlebens. Es ist das Szenario der Globalisierung. Neue Formen von Slums entstehen, die dennoch funktionieren, angetrieben von der unausrottbaren Vitalität ihrer Bewohner. Während die westliche Welt an Vereinzelung und Entfremdung moralisch zugrunde geht, obsiegt die Dritte Welt mit ihrer intuitiven Soziabilität.

    Holland-Moritz beendet seine Reise aus den 70ern über die Gegenwart in die Zukunft mit einem kleinen Hinweis, der womöglich mehr ist als nur eine Randglosse. Zwei afrikanische Frauen nämlich haben 1996 die Organisation ADOPTED ins Leben gerufen, die einsamen und depressiven Europäern die Nestwärme afrikanischen Lebens vermitteln möchte, indem man Pateneltern für sie findet. Möglicherweise tut das bald mehr not als umgekehrt.