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Lücke von 175.000 Studienplätzen

Nicht nur die doppelten Abiturjahrgänge und die Aussetzung der Wehrpflicht sind der Grund für steigende Studienanfängerzahlen. Insgesamt gebe es immer mehr junge Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen, sagt Christian Berthold vom Beratungszentrum CHE Consult.

Christian Berthold im Gespräch mit Jörg Biesler | 19.07.2011
    Jörg Biesler: Die Zahl der BAföG-Empfänger steigt, hat heute das Statistische Bundesamt mitgeteilt, die Zahl der Studienanfänger auch. Das haben sich ja alle immer gewünscht, aber jetzt plötzlich sind es doch mehr als erwartet. Na ja, erwarten können hätte man es vielleicht schon, aber gehandelt wurde noch nicht. Doppelte Abiturjahrgänge und die Abschaffung der Wehrpflicht, da kommt einiges auf die Hochschulen zu. Was genau, das hat das
    Centrum für Hochschulentwicklung ausgerechnet. Christian Berthold ist der Leiter von CHE Consult. Herr Berthold, die Kultusminister prognostizieren ja regelmäßig, wie viel Kapazitäten die Hochschulen brauchen, die Zeiträume sind da recht lang - wie weit weicht denn Ihre aktuelle Berechnung von der der Kultusminister ab?

    Christian Berthold: Na ja, genau genommen beziehen wir uns auf die Planung in dem sogenannten Hochschulpakt, in dem sich ja Bund und Länder vorgenommen haben, die Auswirkungen des doppelten Abiturjahrgangs und auch jetzt der Abschaffung der Wehrpflicht sozusagen zu kompensieren. Und wir haben jetzt auf der einen Seite mal eine Auswertung vorgenommen, bezogen auf die ersten vier Jahre dieses Hochschulpakts, den sogenannten Hochschulpakt I, der von 2007 bis 2010 lief, und dann haben wir jetzt eine Prognose gerechnet für die Jahre 2011 bis 2015, den jetzt laufenden Hochschulpakt.

    Biesler: Und wie weit liegen Sie da über den Prognosen, wie viel mehr Studienanfänger werden es sein?

    Berthold: Für die nächsten fünf Jahre waren zunächst 275.000 zusätzliche Studienanfänger geplant und vereinbart worden - zusätzlich heißt immer über dem Referenzwert der Studienanfängerzahl von 2005. Und mit Rücksicht auf die Abschaffung der Wehrpflicht ist dieser Wert jetzt noch mal um 50.000 erhöht worden, und wir gehen davon aus, dass es aber 500.000 wohl werden. Das heißt, es gibt eine Lücke von 175.000, grob.

    Biesler: Lässt sich denn die Zahl von Studienanfängern überhaupt exakt berechnen? Das sind auch Schätzungen bei Ihnen, aber vielleicht genauere Schätzungen.

    Berthold: Ja, das ist natürlich wie immer mit Prognosen, die betreffen vor allem die Zukunft und sind deshalb schwierig, und das Phänomen erleben wir hier auch. Lassen Sie mich einen Grund sagen, der vor allem dazu geführt hat, dass alle Prognosen, auch unsere früheren Erwartungen jetzt deutlich übertroffen worden sind, ein Grund, der bisher wenig in der Öffentlichkeit diskutiert worden ist: Wir haben eben nicht nur die doppelten Abiturjahrgänge und wir haben nicht nur die Abschaffung der Wehrpflicht oder die Aussetzung der Wehrpflicht, sondern wir erleben eben seit einigen Jahren einen sehr starken Trend der jungen Menschen sozusagen in Richtung von höheren Bildungsabschlüssen. Das heißt, mehr junge Leute gehen eben aufs Gymnasium oder streben anders eine Hochschulzugangsberechtigung an. Und das ist eigentlich das große quantitativ wirksame Phänomen, und das hat sich in den letzten Jahren auch noch verstärkt, und diese Phänomene haben wir jetzt mal in unseren Prognosen, in dieser jüngsten Berechnung, da hat man etwas die Formel angepasst, um die jüngeren Entwicklungen sozusagen zu berücksichtigen. Und daraus ergibt sich eben dann doch diese sehr hohe Erwartung von 500.000 zusätzlich in den nächsten fünf Jahren.

    Biesler: Ja, ganz unproblematisch ist es ja nicht für die Hochschulen, andererseits jubilieren manche Hochschulen, reihenweise werden inzwischen Pressemitteilungen verschickt, in denen die Steigerung der Bewerberzahlen verkündet werden, das verbucht jede Hochschule für sich als Erfolg, als Ergebnis guter Arbeit. Aber wie gut sind denn die Hochschulen vorbereitet auf die 500.000 zusätzlichen Studienanfängerinnen und -anfänger?

    Berthold: Da die Zahlen jetzt so stark steigen, das war nicht in jeder Hinsicht prognostizierbar, und dann bleibt, selbst wenn man das plant und vorbereitet und den richtigen Finanzrahmen auch dafür bereithält, bleiben natürlich immer noch Risiken. Die Hochschulen vor allem brauchen eine gewisse Planungssicherheit, man kann - das können Sie sich leicht denken - natürlich erst im längeren Zeitrahmen auch neue Labore bauen, neue Hörsäle schaffen und so etwas. Und wenn, wie wir das jetzt im jüngsten Beispiel noch mal erlebt haben, im Winter die Wehrpflicht ausgesetzt wird und dann im Frühjahr gesagt wird, okay, jetzt stellen wir mal ein bisschen Geld bereit, das ist für die Hochschulen wahnsinnig knapp, dann darauf reagieren zu können planerisch, und wenn Sie eine Professur berufen wollen, das dauert dann eben doch eine längere Zeit, oftmals ein Jahr.

    Biesler: Aber vor allen Dingen scheint es mir insgesamt dann auch zu wenig Geld zu sein. Wenn man bei einem Studienplatz mal so von Kosten - bei so einem normalen Studienplatz, wir wollen jetzt nicht über Medizin reden, das ist viel teurer - von 20.000 Euro ausgeht, mal 500.000, da kommt ja doch was zusammen.

    Berthold: Das ist schon richtig, da geht es um richtig Geld. Und wenn man die Vorhaben, die wir im Kontext der Rhetorik von der Bildungsrepublik im letzten Jahr noch mal vergegenwärtigt, dann sind wir von dem Ziel, zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung auszugeben, noch weit entfernt. Es muss mehr Geld in die Hochschulen kommen. Die Hochschulen und die Länder haben diesen großen Ausbau der Anfängerzahlen vor allem doch über wissenschaftliche Mitarbeiter und Lehrbeauftragte abgewickelt, was dann auch zu dieser hohen Anzahl an befristet beschäftigten Mitarbeitern führt, die dann alle doch oder vielfach keine vernünftige Berufsperspektive haben. Also da muss man auch ein paar kritische Töne dazu sagen.

    Biesler: Ja, einiges muss jetzt noch passieren an den Hochschulen, hoffentlich rechtzeitig, sodass, wenn der Scheitelpunkt der Welle erreicht ist, man auch schon irgendwas von Wirkung bemerken kann. Christian Berthold war das, der Leiter von CHE Consult, zur aktuellen Entwicklung der Studienanfängerzahlen. Danke schön!

    Berthold: Gerne!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.