Donnerstag, 28. März 2024

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Schule in Syrien bei Luftangriff getroffen
"Die Bevölkerung ist Teil des Krieges"

22 Kinder starben laut UNICEF bei einem Luftangriff in Syrien. Mit solchen Angriffen wolle man die Bevölkerung lähmen, sagte der Friedens- und Konfliktforscher Jochen Hippler im DLF. Sie sei in vielen Kriegen einfach stärker einbezogen als frührer. Militärs würden deswegen immer weniger Rücksicht nehmen.

Jochen Hippler im Gespräch mit Dirk Müller | 27.10.2016
    Jochen Hippler, Politologe und Friedensforscher an der Universität Duisburg
    Jochen Hippler, Politologe und Friedensforscher an der Universität Duisburg (Imago / Metodi Popow)
    Dirk Müller: Der Krieg in Syrien, das Töten geht weiter, tote Schüler, tote Lehrer, tote Angestellte - unser Thema mit dem Nahost-Experten, Friedens- und Konfliktforscher Professor Jochen Hippler von der Universität in Duisburg. Guten Tag.
    Jochen Hippler: Guten Tag, Herr Müller.
    Müller: Herr Hippler, wer hat was von toten Kindern?
    Hippler: Direkt niemand natürlich, aber es hat einen Einschüchterungseffekt, es einen Effekt, die Bevölkerung zu lähmen, und dann kann es natürlich auch nicht ausgeschlossen werden, dass es sich um einen nicht gezielten Angriff handelt. Das muss man ja erst noch untersuchen. Das heißt, wir hatten so was ja in Afghanistan oder im Irak durch westliche Truppen, dass manchmal sogenannte Kollateralschäden passiert sind. Es riecht allerdings doch tatsächlich eher nach einem gezielten Angriff.
    "Der Krieg geht ja nun um die Bevölkerung"
    Müller: Gehen wir noch mal auf eine andere Option ein, Herr Hippler, die Sie gerade genannt haben. Kann das sein, dass es noch notwendig ist, aus welcher Sicht auch immer, die syrische Bevölkerung einzuschüchtern?
    Hippler: Na ja. Wissen Sie, wenn Sie dabei sind, seit langer Zeit jetzt noch eine viertel Million Leute oder einen Stadtteil, einen Teil von Aleppo erobern zu wollen, da denken manchmal tatsächlich Militärs so. Denken Sie an die Bombardierungen im zweiten Weltkrieg von Hamburg oder von Dresden, das war auch militärisch unsinnig und trotzdem gab es da Leute im Militär, die das für richtig gehalten haben. Und das ist tatsächlich in Syrien auch häufig so der Fall. Der Krieg geht ja nun um die Bevölkerung. Die Bevölkerung ist Teil des Krieges, sie ist teilweise bewaffnet und sie ist auch Opfer, und da sind zivile und militärische Grenzen völlig verschwommen inzwischen.
    Müller: Diese Motivation trauen Sie auch der russischen Armee zu?
    Hippler: Nun, es gibt Hinweise darauf. Aber es ist noch nicht gerichtsfest. Bevor man solche Aussagen wirklich endgültig macht, muss man vielleicht noch untersuchen und kann nicht sofort nach dem Angriff das beurteilen. Aber es gibt keine Hinweise dafür, das haben viele Armeen in verschiedenen Kriegen gemacht. Ich wüsste nicht, warum die russische Armee das prinzipiell anders und humanitärer sehen sollte.
    "Die Bevölkerung ist in vielen Kriegen einfach stärker einbezogen als früher"
    Müller: Viele von uns haben ja gedacht, 2016 ist anders als 1943, _44, _45 oder auch als 1960 und _70. Ist es immer noch genauso wie immer?
    Hippler: Na ja, es ist anders. Aber manche Sachen haben sich nicht geändert. Zum Beispiel die Bevölkerung ist in vielen Kriegen einfach jetzt stärker einbezogen als früher. Sie hatten in der ersten Jahrhunderthälfte des 20. Jahrhunderts immer noch stärkere Versuche, dass Streitkräfte gegen Streitkräfte kämpfen, und in den letzten Jahrzehnten ist es tatsächlich so, dass diese Unterscheidung von Zivilisten und Militärs verschwimmt, und zwar auf allen Seiten, dass bewaffnete Milizen sich aus der Bevölkerung bilden, die keine Uniform tragen und trotzdem Kalaschnikows oder andere Waffen tragen und kämpfen, und dass umgekehrt auch dann Militärs weniger Rücksicht nehmen. Das heißt tatsächlich, wir haben nicht mehr diese säuberliche Trennung zwischen Militärs und Zivilisten, und dadurch sind jetzt wirklich die Prozentzahlen von zivilen Opfern in den letzten 100 Jahren sicher gestiegen.
    Müller: Wenn Sie sagen, es gibt da keine saubere Trennung mehr - inwieweit das früher möglich war, sei jetzt mal im Einzelfall dahingestellt. Ich musste eben stutzen, als ich den Satz formuliert habe: Der Krieg in Syrien, das Töten geht weiter. Ich wollte dann schreiben, das Morden geht weiter. Das steht mir normalerweise nicht zu, weil wir sagen, das Töten geht weiter. Wir versuchen, da neutral, distanziert zu bleiben. Wir kennen die Hintergründe ja auch nicht. Ist ein bisschen die Zeit angebrochen, dass man auch schreiben kann, das Morden geht weiter?
    Hippler: Das ist in vielen Fällen sicher richtig. Wenn Sie sich gerade den syrischen Bürgerkrieg ansehen und daran denken, dass viele Milizen auf beiden Seiten, aber auch auf Seiten mancher dschihadistischen Milizen ganz gezielt Schrecken verbreiten wollen - denken Sie an diese Enthauptungsszene, denken Sie an früher die Situation, wo ein gefangener abgeschossener jordanischer Pilot in einem Metallkäfig öffentlich verbrannt wurde. Es gibt natürlich viele Situationen, in denen das so ist. Der Unterschied ist, dass man sich bei organisierten militärischen Streitkräften noch wünschen würde, im Gegensatz zu bewaffneten Banden, dass es da noch eine Art militärische Disziplin gibt, in der die Vorgesetzten so was einschränken. Aber wir haben natürlich auch in Syrien oder auch in anderen Kriegen häufig Fälle gesehen, wo gerade das Gegenteil der Fall gewesen ist, wo auch durch militärische Einheiten tatsächlich richtige Morde begangen wurden.
    "Das ist ein Kriegsverbrechen und da kann man auch von morden sprechen"
    Müller: Bleiben wir noch mal bei diesem Fall heute. Wir kennen dementsprechend noch nicht die Hintergründe. Wir wissen nicht, wer dafür verantwortlich ist. 22 Schüler sollen umgekommen sein, sechs Lehrer. Jetzt sage ich schon, umgekommen sein. Wenn die syrische Luftwaffe, die russische Luftwaffe, wer auch immer ganz bewusst dieses Ziel ausgewählt hat - Sie haben das ja zu Beginn gesagt, das sieht nach einem direkten beziehungsweise geplanten Angriff aus -, ist das dann noch Töten?
    Hippler: Das ist ein Kriegsverbrechen und da kann man auch gern von morden sprechen. Es ist sicher ein Kriegsverbrechen. Denken Sie auch kürzlich an den Angriff auf Lastwagen und Versorgungsgüter des Roten Kreuzes, Angriffe auf Krankenhäuser, die teilweise auch gezielt gewesen sind. Da ist es tatsächlich so, dass es Massaker sind, Kriegsverbrechen sind. Da glaube ich nicht, dass Sie sich mit Ihrer Sprache besonders zurückhalten brauchen.
    Müller: Bringt Sprache in diesem Zusammenhang etwas?
    Hippler: Ja, schon. Es hilft natürlich, klarer zu denken. Wenn man keine klare Sprache spricht, dann kann man auch nicht klar denken. Aber wenn ich jetzt an die Situation für die Menschen in Syrien denke, da habe ich das Gefühl, dass die jenseits solcher Feinheiten sind und dass da das Problem wirklich darin besteht, dass die Gesellschaft zerbrochen, zerfallen ist, und dass dann noch von außen alle möglichen Kriegsparteien auch Öl ins Feuer gießen und an diesem Töten oder Morden auch noch teilnehmen. Da geht es nicht mehr um Sprache, da geht es wirklich um das Leiden der Bevölkerung.
    "Ich wüsste nicht, warum man Mörder nicht Mörder nennen sollte"
    Müller: Bleiben wir, Herr Hippler, noch mal auf der Ebene. Wenn sich jetzt herausstellen sollte, es hätte russischen Ursprung - bei einigen Angriffen war das ja offenbar der Fall; da hat es nachher Nachweise und Beweise gegeben -, kann man dann soweit gehen und sagen, der Oberbefehlshaber ist ein Mörder?
    Hippler: Ja. Es ist unterschiedlich, ob Sie es politisch oder ob Sie es juristisch äußern. Wenn Sie es juristisch äußern, dann gilt im Prinzip eine Immunität für diese Art von Täterkategorien. Aber politisch oder moralisch wüsste ich nicht, was dagegen spräche. Es gibt ja genug Leute, die auch bei den anderen Kriegen, sagen wir mal, George Bush mit solchen Begriffen bezeichnet haben. Politisch finde ich das durchaus vertretbar, juristisch sieht es natürlich ziemlich anders aus.
    Müller: Wir haben jetzt kaum noch Zeit, aber Sie müssen den jüngsten Kommentar, eine jüngste Abhandlung jetzt veröffentlichen, auch vor dem Hintergrund unseres Gesprächs. Nehmen Sie das dann in den Mund, das Wort?
    Hippler: In diesem konkreten Fall, wenn sich diese Ergebnisse jetzt bestätigen würden, dann würde ich das sicher politisch so formulieren. Natürlich! Ich wüsste nicht, warum man Mörder nicht Mörder nennen sollte, nur weil sie Uniformen tragen. Da muss man dann auch mal eine klare Sprache sprechen.
    Müller: Und auch die Politiker, die es zulassen?
    Hippler: Natürlich! Die Soldaten machen das ja nicht von sich aus, sondern sie werden ja angewiesen, und wenn dann ein Oberkommandierender, ein Oberbefehlshaber, egal ob er jetzt in Washington oder in Moskau sitzt, dem keinen Einhalt gebietet, nicht öffentlich sich entschuldigt und die Verantwortlichen zur Verantwortung zieht, dann deckt er das und dann ist er natürlich Mittäter und auch mitverantwortlich.
    Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk der Friedens- und Konfliktforscher Professor Jochen Hippler. Danke, dass Sie wieder für uns Zeit gefunden haben.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.