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Luftangriffe
"Es ist ein Angriffskrieg der Türkei"

Die Linkenpolitikerin Sevim Dagdelen hat die NATO davor gewarnt, sich am türkischen Kampf gegen Kurden und IS-Miliz zu beteiligen. Ankara führe keinen Verteidigungs-, sondern einen Angriffskrieg, sagte sie im Deutschlandfunk. Eine deutsche Beteiligung sei durch das Grundgesetz nicht gedeckt.

Sevim Dagdelen im Gespräch mit Dirk Müller | 27.07.2015
    Sevim Dagdelen spricht am Rednerpult des Bundestags.
    Die Linkspolitikerin Sevim Dagdelen im Bundestag. (dpa / Wolfgang Kumm)
    Die Luftangriffe der Türkei in Syrien seien völkerrechtswidrig, warnte Dagdelen im Deutschlandfunk. Der Regierung in Ankara ziele mit ihnen alleine gegen syrische Regierungstruppen und auf einen Sturz von Machthaber Baschar al-Assad. Hierbei wolle die Türkei stärker die NATO beteiligen. Die Bundesregierung müsse sich deshalb fragen, ob sie sich an diesem "Aggressionskurs" beteiligen will, so Dagdelen.
    Der Kampf gegen die Kurden ist laut der Außenpolitikerin vor allem innenpolitisch motiviert. Nach ihren Stimmverlusten bei den Parlamentswahlen setze die regierende AKP nun auf Neuwahlen im August. Die HDP, die den Sprung ins Parlament geschafft hatte, wolle man nun "in die Ecke des Terrors drängen". Die HDP sei keine reine Kurdenpartei, betonte Dagdelen. Als "türkische Partei" sei sie ein "Dorn im Auge" von Präsident Recep Tayyip Erdogan.
    Erdogan habe den Friedensprozess mit mit den Kurden "wegen innenpolitischen und außenpolitischen Motivationen aufgekündigt". Nun provoziere er, dass die kurdische Arbeiterpartei PKK "wieder stärker zu den Waffen greift", glaubt die Linken-Politikerin. Dies würde der Türkei noch mehr Chaos bringen.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Am Anfang stand der Applaus, zumindest die Zustimmung für die türkischen Luftschläge gegen die Milizen, gegen die Soldaten des IS, auch vonseiten der Grünen beispielsweise, schließlich hatte sich die Regierung ganz bewusst über Monate im Kampf gegen Islamisten zurückgehalten. Nach dem Terroranschlag von Suruc wurden, werden die Karten neu gemischt. Dazu gehört auch das harte Vorgehen der Türkei gegen die PKK: Obwohl sich beide Seiten in einem Gesprächsdialog befinden, in einem Friedensprozess, Luftangriffe gegen Stellungen der kurdischen Arbeiterpartei im Norden Iraks. Empörung darüber bei allen Parteien in Berlin, auch in der Union. Washington hingegen signalisiert Zustimmung zum türkischen Vorgehen.
    Proteste, Demonstrationen gestern gegen die Angriffe in der Türkei, unter den Demonstranten auch die linke Außenpolitikerin Sevim Dagdelen, die wir jetzt in Istanbul erreichen. Guten Morgen!
    Sevim Dagdelen: Guten Morgen, Herr Müller!
    Müller: Frau Dagdelen, wie sind die Proteste verlaufen?
    Dagdelen: Die waren zunächst einmal friedlich und es wurde ja dieser große Marsch für den Frieden, den ein sehr breites Friedensbündnis organisieren wollte, gestern seitens des Gouverneurs zunächst verboten, daraufhin gab es gestern so etwas wie eine Pressekonferenz auf dem großen Platz in Aksaray, wo dann über 7.000 Menschen teilgenommen haben an dieser Pressekonferenz. Und die verlief auch friedlich, später gab es aber Übergriffe seitens der Polizei auf die Demonstranten und hat es auch Festnahmen gegeben, wie seit Tagen diese Festnahmewelle, Verhaftungswelle stattfindet gegenüber linken Aktivisten.
    Müller: Sie haben das alles ganz genau aus der Nähe beobachten können. Politisch motivierte Festnahmen, so wie es in vielen Berichten steht, oder waren auch Randalierer dabei?
    Dagdelen: Ich weiß jetzt natürlich nicht, ob landesweit, wo jetzt über 600, laut kurdischen Organisationen über 1.000 Festnahmen es gegeben hat, darunter lediglich 100 Anhänger vom Islamischen Staat und alle anderen linke Aktivistinnen und Aktivisten, weiß ich natürlich, ob es mal eine Randale in Diyarbakir oder sonst wo gegeben hat. Aber Fakt ist, dass im Moment eine Repressionswelle nach innen verläuft gegenüber Linken, gegenüber vor allen Dingen denjenigen, die Opfer dieses Terroranschlags in Suruc waren, selbst die Verletzten aus Suruc, nachdem sie in ihrem Heimatort angekommen sind wie beispielsweise in Istanbul, die ich heute auch treffen werde, sind hier festgenommen und verhaftet worden bei diesen Razzien. Und ich finde, das geht gar nicht, dass jetzt ausgerechnet diejenigen verhaftet und unterdrückt werden sollen, die die Menschen vor allen Dingen auch gegen den IS hier schützen und auch Aktionen machen.
    Dagdelen: Zuspruch für HDP ist der AKP ein Dorn im Auge
    Müller: Frau Dagdelen, Sie müssen uns da weiterhelfen, auch mit Ihren Kenntnissen, mit Ihrer Erfahrung, Sie sind ja ganz, ganz häufig in der Türkei. Wenn wir das lesen, wovon Sie gerade gesprochen haben, dass eben diese Menschen festgenommen worden sind, die ja unmittelbar oder auch mittelbar von dem Terroranschlag in Suruc betroffen sind, wie ist das zu erklären, welche Erklärung gibt es dafür?
    Dagdelen: Es gibt ... Zunächst einmal muss man sagen, dass da vor allen Dingen Leute sind, die zum Beispiel Mitglied der kurdisch-linken Partei HDP sind, die ja erstmalig über diese undemokratische Zehn-Prozent-Hürde bei den Parlamentswahlen Anfang Juni auch ins Parlament eingezogen ist und damit eigentlich den Machtverlust für Erdogans Partei, die AKP bedeutet hat, nämlich die absolute Mehrheit haben sie verloren, weil diese HDP eingezogen ist. Und das Kalkül des AKP-Regimes unter Erdogan ist es jetzt, in Richtung Neuwahlen, weil kein Partner sich für eine Koalition hergibt für die AKP im Moment, wie es aussieht, dass man, wenn man Mitte August dann immer noch keine Regierungsbildung hat, muss es Neuwahlen geben laut der türkischen Verfassung. Dass man dann eventuell in einem fast schon selbst terrorisierten Land die HDP in die Ecke des Terrorismus stellen kann und somit verhindern kann, dass sie die Zehn-Prozent-Hürde bekommen und dann eventuell die nötigen drei, vier Prozent bekommen, damit sie dann die absolute Mehrheit wieder haben. Und deshalb gehen sie jetzt dagegen vor!
    Müller: Und das ist für Sie, Frau Dagdelen, wenn ich Sie unterbrechen darf, völlig absurd, diese kurdische Partei in diese Ecke zu drängen?
    Dagdelen: Meiner Meinung nach ja, weil es erstens nicht nur eine kurdische Partei ist; es ist das erste Mal in der Türkei eine Partei aufgetreten, die vom kurdischen Spektrum kommend auch viele Linke mitintegriert hat, viele Minderheitenorganisationen integriert hat. Das erste Mal sitzen auch Jesiden im türkischen Parlament, das ist der HDP zu verdanken, Aleviten, Vertreter der alevitischen Gemeinde, der armenischen Gemeinde sind jetzt Mitglieder des türkischen Parlaments über die HDP. Die HDP ist nicht mehr nur eine kurdische Partei, sie ist viel mehr als das. Und sie sagt selber auch, wir sind eine türkische Partei, wir sind für die ganze Türkei. Und das ist auch der Dorn sozusagen im Auge der AKP, sie möchten das verhindern und deshalb machen sie sowohl eine Militäraktion nach außen, wo sie zum Beispiel diejenigen bombardieren, die die Menschen in Syrien und im Irak gegen den faschistischen IS verteidigt haben, nämlich die PKK, und nach innen hin wenden sie sich auch gegen diejenigen Demokraten eben, die linken Aktivisten, die sich auch eben gegen diese IS-Faschisten verbrüdern.
    Müller: Wir versuchen ja, Frau Dagdelen, in diese sehr komplizierte Grauzone vorzudringen, auch mit Ihrer Hilfe. Die Motivation der Türkei, die PKK zu bombardieren in einer Phase, wo die türkische Regierung ganz bewusst in den vergangenen Monaten zumindest offiziell ja versucht hat, sich den Kurden anzunähern, wie auch umgekehrt, kann es sein – und das ist ja die Argumentation der türkischen Regierung –, dass die PKK immer noch ein großes Sicherheitsrisiko für die Türkei ist?
    Dagdelen: Also, ich glaube, es ist wichtig, dass es diesen Waffenstillstand gegeben hat, das muss man schon mal als Fakt nehmen. Und diesen Waffenstillstand hat die AKP gebrochen, indem sie die Stellungen von der PKK jetzt bombardiert, statt wirklich gegen die Barbaren des Islamischen Staates vorzugehen und auch die anderen Barbaren. Also, man muss ja mal sagen, sie sagen, wir gehen jetzt gegen den IS vor. Gleichzeitig unterstützen sie andere islamistische Terrororganisationen wie die Ahrar al Sham, die mit der Al Kaida verbündet sind und für Massaker an Aleviten und Drusen in Syrien verantwortlich sind. Die beliefern sie mit Waffen, und das in Kenntnis der Bundesregierung. Und da, glaube ich, muss man Folgendes sehen: Sie haben mehrere Ziele. Die Türkei möchte verhindern, dass es zusammenhängend selbst-verwaltete Strukturen in Syrien gibt seitens der Kurden, das Rojava wollen sie zurückdrängen, deshalb dringen sie vor genau in dieses Gebiet zwischen den Kantonen Afrin und Kobane, weil sie diesen Zusammenhang verhindern möchten, deshalb möchten sie diese Pufferzone auch dort einbauen, die laut "Stratford" – einem Nachrichtenmagazin aus den USA – 120 Kilometer Breite hat, bis zu 50 Kilometer tief in das syrische Territorium eindringt, das muss man sich mal vorstellen, so eine Pufferzone wollen sie aufbauen! Sie wollen eine Flugverbotszone in Syrien durchsetzen, dazu muss man wissen, weder die PKK noch der IS haben eine Luftwaffe. Das zielt ganz allein gegen die syrischen Regierungstruppen, die Türkei möchte unbedingt ihren Regime Change, den Sturz von Assad in Syrien jetzt umsetzen und dazu möchten sie auch noch die NATO stärker und direkter am Krieg in Syrien beteiligen. Und da ist es natürlich für uns ganz brenzlig: Wird die deutsche Bundesregierung diesen Aggressionskurs von Erdogan mitmachen und deutsche Bundeswehrsoldaten mit an diesem großen Krieg hier beteiligen? Ich fordere dazu auf, dass man das auf keinen Fall macht und die Bundeswehr da abzieht.
    Dagdelen: Befürchte, Erdogans Kalkül ist, dass die PKK wieder stärker zu den Waffen greift
    Müller: Pufferzone als Sicherheitszone, sagen Sie, das war auch die Argumentation unseres Korrespondenten Reinhard Baumgarten, den wir später auch noch einmal hören. Viele sagen ja auch in Washington, das ist durchaus legitim, auch die gezielten Angriffe auf die PKK. Das ist zumindest aus den Vereinigten Staaten ja zu hören. Aber noch mal zurück zu meiner Frage, ist die PKK immer noch ein Sicherheitsrisiko für die Türkei?
    Dagdelen: Solange es den Waffenstillstand gegeben hat, solange es diesen Friedensprozess gegeben hat, gab es kein Sicherheitsrisiko seitens der PKK.
    Müller: Es gibt keinen Terrorismus der PKK mehr?
    Dagdelen: Na ja, es gab diesen Terrorismus nicht, solange es diesen Waffenstillstand gegeben hat. Und ich befürchte, dass es auch jetzt ein Kalkül ist, eine Provokation seitens Erdogan, dass die PKK jetzt wieder stärker an die Waffen greift. Und das wäre natürlich ein ganz, ganz großer Schlag zurück sozusagen in frühere Zeiten, und das würde noch mehr Chaos bringen in der Türkei, aber auch für die ganze Region. Und ich hoffe eben, dass die Verantwortlichen bei der PKK das nicht machen.
    Müller: Ich muss da noch mal nachfragen, vielen leuchtet das nicht ein: Warum hat Erdogan kein Interesse, endlich Frieden mit den Kurden zu bekommen? Den machtpolitischen Aspekt haben Sie eben schon bezeichnet beziehungsweise bei uns beschrieben. Hält er das letztendlich mittelfristig für undenkbar, mit den Kurden einen Konsens zu finden?
    Dagdelen: Ich glaube nicht, dass es undenkbar ist, einen Konsens zu finden ...
    Müller: Also für ihn undenkbar?
    Dagdelen: Es ist schon denkbar, aber es ist nicht gewollt, das ist ja was anderes! Es ist schon möglich, das glaube ich auch, dass das die AKP sieht, es gibt ja auch einzelne Stimmen innerhalb der AKP, die das so sehen und die auch sagen, wir brauchen diesen Friedensprozess! Und es gibt ja auch viele kurdische Anhänger für die AKP. Aber dieser Friedensprozess wurde seitens der AKP jetzt aufgekündigt wegen innenpolitischen, aber auch außenpolitischen Motivationen, eben, wie ich sagte, dieses Rojava zu verhindern. Erdogan hat immer gesagt: Es koste, was es wolle, ein Rojava im Süden der Türkei, also südlich der türkischen Grenze sozusagen in Syrien, wird von uns verhindert, es koste, was es wolle! Das in Bezug auf die Barbaren des Islamischen Staates, so eine ähnliche Aussage habe ich bisher noch nie gehört! Und es ist ja auch weitläufig bekannt, dass die Türkei den IS unterstützte und weiterhin auch unterstützt.
    "Es ist ein Angriffskrieg von der Türkei"
    Müller: Wie groß ist Ihre Befürchtung – Sie haben ja die Befürchtung, das hatten wir im Vorgespräch auch noch geklärt –, dass die NATO jetzt in irgendeiner Form miteinbezogen wird, dass die NATO auch eine Rolle bekommt, eine aktive Rolle bekommt in diesem Konflikt?
    Dagdelen: Es ist ja nicht neu, dass die türkische Regierung seit Längerem schon versucht, die NATO mit hineinzuziehen für ihre eigenen Ambitionen. Ich will nur daran erinnern, dass der Geheimdienstchef in einer Unterhaltung mit dem türkischen Außenminister, der jetzt Ministerpräsident ist, Davutoglu, gesagt hat in einem vertraulichen Gespräch, schick mal zwei, drei Leute rüber an die Grenze, die beschießen uns, und dann können wir endlich einmarschieren nach Syrien. Und das heißt als NATO-Land natürlich auch, dass die anderen Länder dann mitziehen wollen. Aber das, meiner Meinung nach, bringt wirklich sowohl das Grundgesetz als auch der NATO-Vertrag nicht her. Der NATO-Vertrag hat nur dann einen Bündnisfall vorgesehen, oder der Bündnisfall ist dann vorgesehen, wenn es einen Angriff auf das türkische Territorium als NATO-Bündnisland gegeben hätte.
    Müller: Terroranschläge können auch Angriffe sein!
    Dagdelen: Na ja, es gab keine Terroranschläge in den Sinne. Der IS als Terrororganisation, islamistische Terrororganisation hat ja von der türkischen Grenze aus Syrien angegriffen, ist ja umgekehrt der Fall! Dann stellt man ja alles auf den Kopf! Es sind Angriffskriege von der Türkei auch im Moment, die Luftangriffe auf Syrien beispielsweise sind völkerrechtswidrig. Und ich finde auch, dass das Grundgesetz nicht hergibt, jetzt hier die Bundeswehr mitzubeteiligen an diesem Aggressionskrieg von Erdogan, weil es eben ein Angriffskrieg ist und keine Verteidigung.
    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk die linke Außenpolitikerin Sevim Dagdelen, wir haben sie in Istanbul erreicht. Vielen Dank für das Gespräch, Ihnen alles Gute!
    Dagdelen: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.