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Sure 2 Vers 180
Ein Vers über das Erben

Der Koran wird oft für ein Gesetzbuch gehalten. Es gibt aber fast keine Rechtsgebiete, für die er explizite Vorgaben macht. Eine Ausnahme ist das Erbrecht. Für die arabische Gesellschaft im 7. Jahrhundert, als der Islam entstand, war es elementar wichtig zu wissen, wer was wann erbt. Der Koran drückte diesen Regelungen seinen Stempel auf.

Von Dr. Shady Hekmat Nasser, Harvard University, Cambridge, USA | 12.01.2018
    "Es ist euch vorgeschrieben: Wenn der Tod sich einem von euch naht, so sei - im Fall, dass er Gutes hinterlässt - für Eltern und Verwandte ein Vermächtnis da, nach Billigkeit, als Pflicht für die Gottesfürchtigen."
    Der Koran wurde dem Propheten Mohammed über einen Zeitraum von 23 Jahren nach und nach offenbart. Die islamische Tradition hält fest, dass einige der frühen Verse des Korans von späteren abrogiert, also aufgehoben wurden. Das Prinzip der Abrogation sorgte für Kontroversen unter den muslimischen Gelehrten, weil es dem theoretisch unveränderbaren und ewigen göttlichen Willen einen Wandel beimisst.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Über den Status dieses eingangs zitierten Vermächtnis-Verses vertraten die muslimischen Gelehrten während der ersten Jahrhunderte des Islams keine einhellige Meinung. Viele der frühen maßgeblichen Persönlichkeiten bestätigten die Abrogation dieses Verses und ähnlicher. Andere meinten indes, er sei nicht abrogiert worden und besäße daher nach wie vor Geltung.
    Shady Hekmat Nasser
    Dr. Shady Hekmat Nasser, wechselte von der renommierten Cambridge University in England nach Havard in die USA. (priv.)
    Die Rahmenbedingungen für das Erbrecht im Islam durchliefen während der Prophetenschaft Mohammeds diverse Veränderungen. Der Islamwissenschaftler David Powers unterscheidet drei Phasen in der Entwicklung des Erbrechts.
    Erstens, die frühe mekkanische Periode von 610 bis 622: in dieser Zeit wurden Verse offenbart, die die Aspekte einer gewillkürten Erbfolge regeln. Vor dem Islam griffen die Araber auf Testament und letzten Willen zurück, um den Besitz von einer Generation an die nächste zu übergeben.
    Die zweite Entwicklungsphase des Erbrechts ist laut Powers die frühe medinensische Periode von 622 bis 630: Jetzt wurden Verse offenbart, um Regeln für die verbindliche Aufteilung des Besitzes zu etablieren.
    Und schließlich folgte die späte medinensische Periode ab 630: von nun an wurden Verse offenbart, die den Rahmen der letztwilligen Verfügung eingrenzten.
    Die frühen Vermächtnisverse sind vom Charakter her eher liberal und dem eigenen Ermessen anheimgestellt. Sie gaben den Muslimen die Freiheit, ihren Besitz ohne Einschränkungen zu vermachen.
    Diese Freiheit endete im Jahr 625. Eine Frau namens Umm Kuhha beschwerte sich beim Propheten. Der von ihrem Ehemann eingesetzte Mittestamentsvollstrecker habe ihr und ihrer Tochter das ihnen zustehende Erbe vorenthalten. Der Prophet löste ihr Problem nicht sofort. Er bat Umm Kuhha, so lange zu warten, bis Gott ihm das endgültige Urteil in dieser Sache offenbare.
    Gottes Antwort wurde in zwei Schritten überliefert - dabei handelt es sich um die sogenannten Erbschaftsverse. Zunächst wurde in Sure 4 Vers 8 betont, dass Frauen erbberechtigt seien. Dann wurden die exakten Bruchteile bestimmt, die den Erben jeweils zustehen. Dies geschah in den Versen 11 und 12 aus Sure 4. Es sind zwei lange Verse, weshalb wir nur einen Auszug hören, um ihren Charakter nachzuvollziehen: "[…] Und für seine Eltern, und zwar beide von ihnen, ist ein Sechstel dessen, was er hinterlässt, bestimmt, sofern er Kinder hatte. […] Und für euch ist die Hälfte dessen bestimmt, was eure Frauen hinterließen, wenn sie keine Kinder haben. Wenn sie aber Kinder haben, dann ist für euch ein Viertel dessen, was sie hinterließen, bestimmt".
    In den Vermächtnisversen werden Art und Umfang vom Erblasser selbst bestimmt. Was den Erben rechtlich zusteht, hängt von der Entscheidung des Menschen und nicht von Gott ab. Bei den Erbschaftsversen aus Sure 4 indes legt Gott fest, wer die rechtmäßigen Erben sind und wie viel sie genau bekommen dürfen.
    Man kann also sagen, dass sich das Erbrecht im Islam von einem freiwilligen System hin zu einem System der Zwangsvorgaben gewandelt hat.
    Bei der Audioversion handelt es sich um eine aus Gründen der Sendezeit leicht gekürzte Fassung dieses Textes.