Donnerstag, 28. März 2024

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Pop und Politik 2019
Körper, Geschlecht und K.I.

Im letzten Corso-Musikmagazin des Jahres blicken Bernd Lechler, Jenni Zylka und Jens Balzer zurück auf 2019. Was war wichtig im Pop? Was war bewegend, was zukunftsweisend? Vor allem aber geht es um die Frage, wie der Pop die Politik und die Politik den Pop beeinflusst hat.

Jenni Zylka und Jens Balzer im Gespräch mit Bernd Lechler | 28.12.2019
Billie Eilish posiert mit großer Sonnenbrille und grün-schwarzem Haar
Mit ihrem Debütalbum hat Billie Eilish 2019 ein Beben in der Popwelt ausgelöst (Invision / AP / Jordan Strauss)
Im letzten Corso-Musikmagazin des Jahres blicken Bernd Lechler, Jenni Zylka und Jens Balzer zurück auf 2019. Was war wichtig? Was war bewegend? Was war zukunftsweisend im Pop?
Billie Eilish - Lolita für Gruftis
Bernd Lechler: Ich darf den Anfang machen und fühle mich ein bisschen unoriginell dabei, denn Billie Eilish, die kalifornische Newcomerin, die fand ja nun fast jeder toll. Aber ich weiß wirklich noch meine Begeisterung und meine gespitzten Ohren, als ich sie zum ersten Mal gehört habe, weil da so eine ohrwurmige Hitparaden-Eingängigkeit und was viel Eigenwilligeres und Dunkleres zusammenkamen. Das fühlte sich sofort sehr besonders an.
Jenni Zylka: Es ist trotzdem ein Phänomen, was ich nicht nur gut finde. Also einerseits mag ich, dass sie tatsächlich da irgendeine Art von Coolness und Selbstbewusstsein reinbringt, und dass man ihr so eine Art von "Body Shaming", das, was sie thematisiert, auch glaubt, obwohl sie ja selber eigentlich auch eine sehr normative Schönheit ist: also ein schlankes, weißes Mädchen mit Bambi-Augen. Es gibt aber auch einen Lolita-Moment, den ich schwierig finde, wenn sie da in ihren Videos auf Bobby-Cars rumfährt und unschuldig guckt. Musikalisch finde ich es ich nicht wirklich interessant. Die Ästhetik der Musik, die ist mir dann doch zu abgeschlossen und zu gleich.
Jens Balzer: Also man kann schon auch viel Gothic-Kultur aus den 80er-Jahren darin wiederfinden. Das war mal tatsächlich ein breiter Strang in der Jugendkultur und in der Popkultur, und das ist offensichtlich in den letzten 10, 15 Jahren verloren gegangen. Und ich glaube, das ist auch ein Teil der Erklärung für ihren Erfolg: Dass sie nämlich für alle die Kids, die halt früher, sagen wir mal, Marilyn Manson gehört hätten oder irgendeine Art von in sich verkapselter, trauriger, dunkler Musik, denen jetzt lange keine Angebote mehr gemacht wurden. Dass die jetzt da mit wirklich jemanden gefunden haben, der für sie spricht.
Lizzo - "Body Positivity"
Lechler: Das Stichwort "Body Shaming" fiel schon. Dann passt dazu natürlich diese andere spektakuläre Newcomerin des Jahres: Ich würde sagen, Lizzo war das - große Soulstimme, nebenbei Querflötistin, und halt vor allem mit ihren, ich weiß es nicht genau, 130 Kilo nackt auf dem Albumcover. Wie sehr verdankt sie ihren Erfolg dieser offensiven "Body Positivity"?
Das Albumcover zu "Cuz I Love You" von Lizzo
"Cuz I Love You (Deluxe)" von Lizzo (Lizzo)
Zylka: Ich finde sie vor allen Dingen extrem relevant, weil sie die erste ausgesprochen übergewichtige Person ist, die wirklich mit Humor das Ganze nimmt. Also: Person Of Color, übergewichtig, das ist mir alles wirklich egal, aber sie ist wirklich lustig. Sie ist wirklich sehr, sehr selbstironisch, egal wie ihr Körper aussieht. Abgesehen davon finde ich da die Musik und die Platte auch wirklich sehr, sehr gelungen – die hat zwar unheimlich viele Anleihen aus altem Soul und Songstrukturen, aber die gefallen mir. Mir gefallen die Texte.
Balzer: Also, da ging es mir ist gerade andersrum: Mir war das ein bisschen zu viel Nostalgie und zu viele Anleihen. Ich habe da jetzt nichts wirklich gehört, was mir so das Jahr 2019 signalisiert in musikalischer Weise. Das habe ich dann tatsächlich bei Billie Eilish noch mal eher festgestellt.
Rosalía - Globaler Flamenco
Lechler: Ihre Entdeckung, Herr Balzer, bei den Frauen des Jahres war aber eine andere: Rosalía.
Rosalia Auftritt beim diesjährigen Primavera Festival
Rosalia Auftritt beim diesjährigen Primavera Festival (Sergio Albert)
Balzer: Rosalía finde ich sehr interessant, weil das eine Stimme ist, eine ausgebildete Flamenco-Sängerin, also ganz tief aus einer klassischen oder volksmusikalischen Tradition kommt. Und dann diese Flamenco-Tradition, auch die klassischen Rhythmen, das Gitarrenspiel und das Händeklatschen, verbunden hat mit Samples der eigenen Stimme, mit Samples von Motorrad-Geräuschen. Das ist, finde ich, eine der eine der interessanten Fragen im Pop gerade: Wie kosmopolitisch, wie global, wie international ist Popmusik eigentlich? Und inwieweit führt sie nicht gerade wieder auch in dieser allgemeinen Stimmung, in der wir uns befinden, auf so Traditionen und Herkünfte zurück, die man eigentlich eher schützen möchte vor dem Globalen und der Kosmopolitisierung?
Deutsch-Rap - "Ein Meer aus Misogynie"
Lechler: Wir schauen, was in Deutschland viel gehört wurde in diesem Jahr: Capital Bra und RAF Camora und Samra, also die Rapper eben, die am liebsten von 22'-Felgen und Ledersitzen und Koks Dealen und Knarren und Gucci und Rolex rappen. Dieser Trend hält jetzt schon ganz schön lang. Warum ist er so langlebig?
Balzer: Wenn man das wüsste, könnte man den vielleicht irgendwie abstellen.
Der Rapper "Capital Bra" in der Maimarkthalle in Mannheim während seines Tourauftakts 2019. 
Capital Bra - mit fragwürdigen Werten zum Erfolg (picture alliance/dpa/Uli Deck)
Zylka: Ich glaube, das liegt einfach an diesen ganz klaren Regeln, die dieser Trend beinhaltetet. Man orientiert sich einfach sehr gut an diesen einfachen Regeln: Wir wollen Provokationen, Nutten und Koks. Und solange das noch provoziert, klappt es ja auch. Und dann ist das, glaube ich, auch wieder so eine Angst, die vielleicht dahintersteckt, vor dieser sich ändernden Gesellschaft. Und da ist Hip-Hop immer noch ganz klar: Wir sehen genau, wie die Männer auszusehen haben, wie die Frauen auszusehen haben, worüber die zu singen haben und was für eine Haltung dahintersteht.
Balzer: Aber es ist schon interessant, dass gerade die Streaming-Charts, die Spotify-Charts, die halt so dermaßen von diesem reaktionären Deutsch-Rap dominiert werden. Dass es da tatsächlich so eine wirklich komplett monochrome, monotone Hegemonie eines bestimmten Genres und auch einer bestimmten Sexualität ist. Das sind ja wirklich ausschließlich Männer, ausschließlich Heteromänner, die auch ausschließlich ein patriarchales Weltbild vertreten. Und das schon frappant - also wir haben jetzt gerade über Lizzo geredet und über Billie Eilish. Also wenn man jetzt, wie Frau Zylka, Billie Eilish eine gewisse Lolitahaftigkeit vorwirft ... das ist natürlich irgendwie alles ein winziger Kritikpunkt gegenüber diesem Meer aus Misogynie, das mit dem Deutsch-Rap über uns hereinbricht und auch einfach nicht aufhört.
Deutsch-Rapper sind "nützliche Idioten der AfD"
Lechler: Aber es war ja schon im Hip-Hop immer so: dieses Flirten mit Kriminalität und dieses Dicke-Hose und Ich-bin-der-Beste und Ich-mache-die-anderen-Platt - auch eine Selbstermächtigung von Jungs aus den Problemvierteln. Das scheint aber jetzt etwas anderes zu sein.
Balzer: Na, immer so war es auch nicht. Das ist dann mit dem Gangster-Rap in den 90er-Jahren eingezogen. Es gibt schon eine lange Hip-Hop-Tradition davor, wo es vor allem um die Aneignung afroamerikanischer Geschichte ging, vor allem darum, wer das beste Sample hat und wer die besten alten Jazz-Singles gediggt hat. Das ist hier übrigens auch ein Teil des Problems, dass dieser Deutsch-Rap musikalisch so uninteressant ist: Das ist ja einfach nur Gerede mit uninteressanten Rhythmen darunter.
Interessant ist tatsächlich, dass diese komplette Entkoppelung dieses Genres von allen Arten der afroamerikanischen oder eben auch antirassistischen, emanzipatorischen Tradition dazu geführt hat, dass es jetzt auch wirklich sturmreif ist für die Rechtspopulisten und auch die Nazis. Also wir hatten ja zum ersten Mal den Fall von Chris Ares, einem Rapper aus dem Umfeld der Identitären Bewegung und der AfD, der mit einem Song tatsächlich auf Platz eins der Amazon-Charts gekommen ist und dann tatsächlich jetzt da gegen die ganzen Vergewaltigungsrapper und Autotune- Migranten anrappt – und der will jetzt halt wieder "neue deutsche Werte" in den Hip-Hop einführen. Und man muss am Ende des Tages feststellen, dass diese ganzen ja auch zu einem wesentlichen Teil aus migrantischem Umfeld kommenden Gangster-Vergewaltigungs-Deutsch-Rapper dann sich letztlich als nützliche Idioten der AfD und der neuen deutschen Rechten erwiesen haben.
Der rechtsradikale Rapper Chris Ares und Mitstreiter auf einer AfD-Kundgebung in München.
Der rechtsradikale Rapper Chris Ares läuft auch bei AfD-Kundgebungen auf – wie hier in München. (imago/ZUMA Press/Sachelle Babbar)
Zylka: Ich würde allerdings nicht sagen, dass der Rechts-Hip-Hop jetzt schon okkupiert – ich glaube, das ist nach wie vor noch eher so ein Randgebiet. Aber da muss der Hip-Hop wirklich aufpassen und der deutsche Rap muss da wirklich aufpassen.
Der größte Künstler aller Zeiten?
Lechler: Wir gucken nach Amerika, wo Kanye West ein neues Album gemacht hat dieses Jahr, der Gott entdeckt hat und von Jesus rappt und dann im Interview sagt: "Ich bin ganz ohne Frage der größte Künstler, der je gelebt hat." Verlieren wir ihn nicht langsam an den Größenwahn?
Balzer: Nein, nein, nein, nein. Kanye West zeigt uns den Ausweg, auch aus der Misere des deutschen Rap zum Beispiel, weil, nachdem er jetzt den lieben Gott für sich entdeckt hat und vor allem Gospel-Musik macht, hat er nämlich auch - es ist sein erstes Album, dass keinen Parental-Advisory-Sticker hat -, weil er jetzt auf alle Schimpfworte, auf alle Frauenbeleidigungen, auf alle "Bitches" verzichtet, um damit irgendwie den Anstand vor seiner Religion zu beweisen. Ich finde, das ist eine interessante Perspektive.
Moderne Gretchenfrage: Wie hast du's mit Michael Jackson?
Lechler: Aber es war die Popmusik in diesem Jahr schon auch sonst wieder Schauplatz politischer Kontroversen, nicht zuletzt im Zusammenhang mit #MeToo, mit sexuellen Übergriffen. Der größte Aufreger war natürlich "Leaving Neverland", der Film über den mutmaßlichen vielfachen Kindesmissbrauch durch Michael Jackson, auf den die Debatte folgte. Ob man jetzt seine Songs noch spielen oder gar genießen darf, hatte die ein Ergebnis?
Schwarzweißaufnahme von Michael Jackson bei einem Live-Auftritt in den 80ern: Der weißgekleidete Sänger steht frontal vor der Kamera, singt in ein Mikrofon und weist mit dem rechten Arm streng zur Seite.
Der Geniekult bröckelt unter den Missbrauchsvorwürfen (imago / ZUMA Press)
Zylka: Ich glaube nach wie vor, dass jeder für sich selbst ausmachen muss, ob man diese Musik noch spielen möchte. Bei Michael Jackson ist es natürlich so, dass er auch nie vor Gericht stand. Er ist, wie Sie richtig sagen, mutmaßlicher pädophiler Täter. Es ist nicht klar, dieser Film ist auch keine Dokumentation, sondern halt ein Anklage-Film. Ich weiß darauf keine richtige Antwort, werde aber damit andauernd konfrontiert, und muss das jedes Mal mit mir selber und meinem Gewissen klarmachen. Ich glaube nicht, dass es da eine Antwort dafür gibt. Glaube aber, dass die Debatte extrem relevant ist – und man muss die jedes Mal führen.
Balzer: Genau, und ich finde es auch wichtig, dass die Debatte weit in die Vergangenheit zurückgeht. Man kann natürlich ähnliche Geschichten wie über Michael Jackson und R. Kelly zurück erzählen bis in die 70er-Jahre hinein, das gesamte Groupie-Wesen rundum David Bowie, Iggy Pop, der gelegentlich mal versuchte, seine Promoterinnen und Interviewpartnerinnen zu vergewaltigen im Fahrstuhl et cetera. Ich glaube, es ist keine Frage, ob man etwas hören darf oder etwas nicht hören darf. Aber es ist eben gut, dass eben diese Geschichten auf den Tisch kommen, und dass darüber geredet wird, und dass wir uns jetzt zumindest mal irgendwie einen Schritt weiter bewegt haben, als das immer so wegzudrücken, diesem Muster folgend: Das sind halt alles Genies. Dieser ganze männliche Genie-Kult, mit dem das alles immer so wegerklärt wurde, der bröckelt gerade zusehends, und das finde ich ein ausgesprochen erfreuliches Ergebnis.
Der Rammstein-Skandal
Lechler: Picken wir uns noch einen anderen Fall von "Schlagzeilen und Geschrei des Jahres" heraus: Rammstein hatten in diesem cleveren Trailer zur Single, die auch noch "Deutschland" hieß, sich kurz in KZ-Häftlingskluft am Galgen stehen sehen lassen. War die Aufregung darum berechtigt?
Balzer: Ich fand das ja im Nachhinein dann doch ein ganz interessantes Video, so eine Art von Deutschland-Geschichte von der Hermannschlacht bis in die Gegenwart nacherzählt. Wo also gewissermaßen die deutsche Nationalgeschichte aus lauter ungefickten Männern besteht, die ihre sexuelle Frustration dadurch ablassen, dass sie sich ständig gegenseitig auf die Mütze hauen. Ob man das natürlich andererseits dann mit so einem Promo-Stunt ankündigen muss, wo man die Opfer der deutschen Massenvernichtung, mit denen man ja eigentlich Empathie zeigen will im Video, ob man die dann erst mal verhöhnen muss, um zu zeigen, wie stark doch die Meinungsfreiheit ist in diesem Lande, das scheint mir am Ende doch zweifelhaft.
Zylka: Ich habe so eine leichte Schwäche für Rammstein, zwar nicht musikalisch, sondern nur rein persönlich für die Menschen. Und sehe auch, dass sie, glaube ich, mit viel zu großen Schuhen andauernd Sachen plattmachen, die sie eigentlich gar nicht plattmachen wollen. Also, ich glaube, dass sie einfach sehr tollpatschig sind. Das soll es nicht entschuldigen. Dennoch ich glaube, dass die nichts Böses wollen.
Künstliche Intelligenz
Lechler: Die künstliche Intelligenz hat dieses Jahr wieder ein Stück weit Einzug gehalten in die von Menschen gemachte Popmusik, vor allem durch "Proto", das dritte Album der in Berlin lebenden Amerikanerin Holly Herndon, das sie in Zusammenarbeit mit Spawn aufgenommen hat. Und Spawn ist eben kein normaler Mitmusiker, sondern eine Software. Wie talentiert und musikalisch ist dieses Spawn?
Das Foto zeigt die Musikerin Holly Herndon bei einem Konzert im März 2018 in Berlin.
Holly Herndon bei einem Konzert im März 2018 in Berlin: Konzept statt Ekstase. (imago images / Votos-Roland Owsnitzki)
Balzer: Spawn wird von Holly Herndon gerne als ihr "Baby" vorgestellt, das sie so in den letzten ein bis anderthalb Jahren aufgezogen hat. Die hat ihm das Singen beigebracht, indem sie ihm was vorgesungen hat. Es war auch dann, wenn ich das richtig verstanden habe, auch immer so beim beim täglichen Leben mit dabei, so beim Kochen und Ausgehen, hat sich immer die Stimmen von den Leuten drumherum angehört, auch bei Choraufnahmen und hat dann selber angefangen zu singen.
Das klingt als Konzept jetzt erst mal ganz interessant. Man muss aber dann eben sagen, dass die Platte, die dabei rausgekommen ist, "Proto" von Holly Herndon, sich eigentlich jetzt auch nicht wesentlich anders anhört als die Platten, die sie vorher gemacht hat. Es gab dann auch eine gewisse Ernüchterung nach den Ankündigungen des Albums, als man es dann zu hören bekam, dass vielleicht jetzt doch mehr Konzept dahinter war als musikalisches Ergebnis.
Zylka: Mir macht das gar nichts aus. Also, es muss einfach nur gut sein, überzeugen auf seine Art. Und dann ist mir das egal, ob das nun Computer macht oder ein Algorithmus oder 15 Nonnen. Es muss halt nur überzeugen im Ergebnis.
2020 - offen für alles
Lechler: Wir gehen davon aus, dass ab 2020 die Musik noch ganz überwiegend von Musikern und Musikerinnen gemacht werden wird. Ganz kurz vielleicht zum Schluss: Deuten sich schon neue Strömungen an, die einen Ausblick auf 2020 erlauben?
Zylka: Ich bin da so ein bisschen ratlos. Ich fand schon, dass das Thema Politik im weitesten Sinne, Klimawandel, Nachhaltigkeit, Genderfragen, in diesem Jahr stärker vertreten war, auch im Pop als sonst. Und ich hoffe, dass das auch weiter so bleibt. Was es musikalisch geben wird: Ich hoffe, dass alles besser wird, weil ich fand es musikalisch, hat mich dieses Jahr nicht besonders viel umgehauen. Ich wäre für alles offen.
Balzer: Mir geht das in diesem Jahr genauso. Ich fand es kein schlechtes Jahr, aber es war zumindest kein Jahr, wo es jetzt eben so ein überragendes Album gegeben hätte, wie in manchem Jahr davor. Also sagen wir mal: 2011 das erste James-Blake-Album, das mich persönlich auf Jahre hinaus umgeworfen hat, oder 2016 das "A Seat At The Table" von Solange oder dann im gleichen Jahr "To Pimp A Butterfly" von Kendrick Lamar, das war halt wirklich was, wo man sagen konnte, da ist jetzt auf musikalisch sehr hohem Niveau in eine politische Debatte eingegriffen worden, da haben sehr viele Leute zugehört und auch daraus eine bestimmte Erkenntnis gezogen.
Hoffnungsträger Jazz
Balzer: Ich finde, mit die interessantesten Dinge, die gerade passieren, passieren im Jazz – und vor allem auch im britischen Jazz. Da wird in einer Art und Weise wieder mit einer doch sehr traditionalistisch gewordenen Musik umgegangen, die ich sehr aufregend finde. Jaimie Branch zum Beispiel, ganz viele junge Talente, von denen wir, glaube ich, im nächsten Jahr noch viel mitbekommen werden und die dann auch wieder eine neue Perspektive auf Musizieren jenseits von reinem Laptop- und Algorithmen-Programmieren erneuern.
Jamie Branch Quartet
Die Jazz-Musikerin Jaimie Branch ist ein aufgehender Stern am Musikhimmel (Peter Gannushkin)
Zylka: Das stimmt, das habe ich fast vergessen. Da gibt es ganz viel Neues, Leute, die aus dem Nichts kommen, aber total gute Instrumentalisten sind und da bin ich auch großer Fan – und vielleicht wird das ja auch noch mal für uns ein Thema nächstes Jahr.
Lechler: Und die ganz herausragende Musik, die ensteht ja vielleicht gerade auch in einem Keller oder Studio – und wir wissen noch gar nicht, dass die uns nächstes Jahr auf Jahre hinaus umhauen wird.