Freitag, 29. März 2024

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Luiz Ruffato: "Das Buch der Unmöglichkeiten"
Brasilien in dunklen Zeiten

Nelly glaubt an das große Glück und findet sich in einem Verschlag wieder, Dinims Mutter verliert den Verstand angesichts von Armut und Enttäuschung. Luiz Ruffatos „Buch der Unmöglichkeiten“ erzählt Geschichten von einfachen Menschen in Brasilien, die sich vergeblich bemühen, dem Elend zu entfliehen.

Von Eva Karnofsky | 20.06.2019
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Ruffato schaut pessimistisch in Brasiliens Zukunft (Buchcover Verlag Assoziation A / Autorenportrait picture alliance / dpa / Arno Burgi)
Die literarische Bearbeitung der Geschichte des Proletariats – das klingt zunächst einmal sperrig. Das ist es jedoch keineswegs, denn Luiz Ruffato versteht die literarische Bearbeitung so, dass er Geschichte auf Geschichten von Menschen aus armen Verhältnissen in bestimmten Lebenssituationen herunterbricht. Sie alle stammen, wie der Autor selbst, aus Cataguases, einer Kleinstadt im Landesinnern, und sie suchen wie Millionen andere arme Brasilianer ihr Glück in Metropolen wie São Paulo. So auch Nelly, eine der Protagonistinnen, von denen "Das Buch der Unmöglichkeiten" erzählt. Nelly hat Dimas beim Spaziergang kennengelernt und für einen wichtigen Mann in einer Chemiefabrik gehalten, für einen Lottogewinn, sozusagen. Wie groß war die Enttäuschung, als sie erkannte, dass auch er ein armer Teufel war:
"... in einem Verschlag in Saúde, drei Zimmer, kein Putz an den Wänden, keine Möbel, ein paar Quadratmeter, mit den Abzahlungen lange im Rückstand. Ein Melancholiker, der nirgends Arbeit fand, antriebslos, niedergeschlagen, ohne Hoffnung stundenlang auf dem Sofa herumlungerte, ungewaschen, unnütz wie ein Kalenderblatt von vor zwei Jahren. Haus. Ehemann. Wenn es sie manches Mal nachts in den Füßen juckte, nach Cataguases zurückzukehren, enttäuscht, ausgelaugt, hatte sie sich früh am Morgen mit roten Augen auf den Weg gemacht, die ganze befremdliche Stadt auf den Kopf gestellt nach Arbeit."
Das Individuum im Zentrum
Der Roman ist zwischen dem Ende der Sechzigerjahre und 2001 angesiedelt, und er hat drei große Kapitel, die alle zur gleichen Zeit spielen, denn Luiz Ruffato wollte einen kollektiven Roman schreiben:
"Im Gegensatz zum kollektiven Roman des realistischen Sozialismus, in dem die Individuen keine Bedeutung haben, sondern nur das Kollektiv, ist es in meinem Roman genau anders herum: Es ist ein kollektiver Roman, aber das Individuum ist das Wichtigste, die Geschichten der Individuen, die die kollektive Geschichte bilden. Ich nenne das kapitalistischen Realismus."
Die drei Kapitel erzählen jeweils von Nelly und Dimas, von Laura und Aílton sowie von Zezé und Dinim und zeigen sie in der Umgebung ihrer Familien und Freunde. Gelegentlich verlaufen auch innerhalb der Kapitel Handlungen genau zur gleichen Zeit. Dann teilt Ruffato die Buchseite, so dass die Handlungsstränge auch im Buch gleichzeitig stattfinden. Alle Protagonisten sind arm wie Nelly und ihr Mann:
"Meine Bücher sind ein Spiegel der Realität, die Wirklichkeit ist so. Ich kenne, glaube ich, die Wirklichkeit der Armen in Brasilien sehr gut, nicht nur, weil ich Sohn und Enkel von Armen, von sehr armen italienischen Einwanderern bin. Ich habe in der Textilindustrie gearbeitet, ich habe als Dreher gearbeitet, in vielen Branchen. Es scheint mir, dass die Wirklichkeit der Armen in Brasilien sehr hart ist, weil die Gehälter sehr gering sind. Der brasilianische Mindestlohn liegt bei umgerechnet ungefähr 220 Euro pro Monat, das ist fast nichts. Die Armen leben in abgelegenen Vierteln, weit entfernt vom Zentrum, von ihren Arbeitsstätten, und deshalb müssen sie mit Bussen, Zügen oder U-Bahnen fahren, die immer überfüllt sind, das ist sehr unangenehm."
Am Ende bleibt nur die Flucht
Die Armen werden obendrein diskriminiert, sagt Luiz Ruffato:
"Sie werden von der bürgerlichen Schicht und von der Mittelklasse wie ein Nichts behandelt, sind Menschen, die für die brasilianischen Reichen nicht existieren. Auch deshalb ist es ein sehr hartes Leben, voller Opfer."
Ruffato beschreibt dieses Leben sehr eindrücklich, es geht dem Leser unter die Haut, wenn er liest, wie die Menschen sich ständig abrackern, aber nie herauskommen aus dem Elend. Ihnen bleibt nur die Flucht. In den Alkoholismus oder gar in den Wahnsinn, wie im Fall von Dinims Mutter Iracema, die nach dem Scheitern ihrer Ehe in einer Anstalt landet, wo der halbwüchsige Sohn sie besucht:
"Das Licht reicht nicht bis in den Frauentrakt. Zusammengepfercht Hunderte Frauen, nackt, halbnackt, übereinander am Boden, der von einer dünnen Schicht Stroh bedeckt ist, Hände in tönernen Schüsseln, Kot, und Pisse, beißender Geruch und Gestank, magere Arme entgegengestreckt, Flehen, verlebte Gesichter, leblose Augen, gellende Schreie einer untoten Welt. Verzweifelt war Dinim durch modrige Gänge geirrt."
Ruffatos Protagonisten scheitern alle. Zwar sitzen sie alle zeitweilig der Illusion vom sozialen Aufstieg auf, doch es wird nie etwas daraus. Daraus ergibt sich der Titel:
"Das Buch der Unmöglichkeiten ist die Feststellung, dass es das gerechtere, tolerantere, egalitärere Brasilien nicht gibt, das ich als Bürger und Schriftsteller mir vorstelle. Das Buch gibt in gewisser Weise die Unmöglichkeit wieder, dass sich Brasilien in eine Nation verwandelt."
Der Fußball ist im Roman eine Möglichkeit, dem Elend für einen kurzen Moment zu entfliehen, auch wenn die Menschen dabei auch wieder nur einer Illusion aufsitzen. Mit dem Bild des fröhlichen Brasilien räumt Ruffato gründlich auf:
"Viele Leute haben die Vorstellung von Brasilien als Fest, als Freude, Strände, Karneval, Fußball. Immer, wenn mir Leute sagen, Brasilien ist ein fröhliches Land, dann lade ich sie ein, nach Brasilien zu kommen und einen Bus oder einen Zug zu nehmen und die Randviertel der Städte zu besuchen."
Zwar ist Ruffatos Sprache gelegentlich rau und oft reißen Sätze umgangssprachlich ab, doch eine Abbildung der Sprache der einfachen Menschen hat er vermieden:
"In Wahrheit bin ich sehr vorsichtig, nicht die sprachlichen Verbiegungen oder die Art der Armen zu sprechen, wiederzugeben, weil man dabei in sprachliche Vorurteile verfallen kann. Meine Bemühung war immer, diese Sprache der Bevölkerung neu zu erschaffen. Das ist eine Form, die Besonderheiten der sozialen Klasse zu zeigen, aber mit Würde, ohne Vorurteile."
Bolsonaro verändert das Land
Ursprünglich hatte Luiz Ruffato die fünf Bände des Zyklus "Vorläufige Hölle" als ein einziges Buch geplant, doch kein Verlag hätte fast zehn Jahre auf seinen nächsten Roman warten. So entstanden fünf Bände, die man aber sehr wohl unabhängig voneinander lesen kann. Sie enden im Jahr 2001, mit der Wahl des Sozialisten Lula da Silva zum brasilianischen Präsidenten. Würde Luiz Ruffato seinen Roman-Zyklus über die Geschichte des brasilianischen Proletariats heute weiterschreiben, sähe die Welt der Arbeiter und einfachen Leute verändert aus. Nicht nur, dass sich die Unsicherheit für die einfachen Leute noch vergrößert habe, meint Ruffato, da es kaum noch feste Arbeitsstellen gebe. Brasilien habe sich nach der Wahl des ultrarechten Präsidenten Jair Bolsonaro stark verändert:
"Als Lula 2001 Präsident wurde, gab es keine so deutliche ideologische Spaltung in der brasilianischen Gesellschaft. Was es gab, waren soziale Unterschiede. Es gab eine starke Mitte-Rechts-Bewegung, es gab eine starke Mitte-Links-Bewegung, aber die Gesellschaft war nicht gespalten wie heute. Es gab 2001 die Idee, dass Brasilien eine brillante Zukunft haben würde, und so unterschiedlich wir auch waren, wir gingen in die gleiche Richtung. Die Szene änderte sich Ende letzten Jahres vollkommen. Heute haben wir eine total gespaltene Gesellschaft, in der die sozialen Klassen nicht mehr miteinander sprechen. Heute haben wir keine starke linke oder rechte Mitte mehr. Wir haben nun eine starke Ultrarechte und mehr nicht."
In der Presse, so Luiz Ruffato, gebe es bereits eine gewisse Selbstzensur. So manche Zeitung sei bei der Regierung beispielsweise mit Sozialversicherungszahlungen im Rückstand, und da halte sie sich lieber mit Kritik zurück, weil sie ihre Existenz nicht aufs Spiel setzen will.
"Ich weiß nicht, was passieren wird, aber ich bin nicht optimistisch, im Gegenteil. Ich glaube, Brasilien erlebt dunkle Zeiten, die wahrscheinlich noch dunkler werden, auch, weil Präsident Bolsonaro ein Mann ist mit einer tiefen Verachtung für die Kultur."
Luiz Ruffato: "Das Buch der Unmöglichkeiten. Vorläufige Hölle"
Band 4. Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler.
Assoziation A, Berlin, Hamburg 2019.
152 Seiten, EUR 18.- Euro.