Freitag, 19. April 2024

Archiv

Lukas Bärfuss: "Hagard"
Abspringen aus einem durchgetakteten Leben

Das Buch "Hagard" von Lukas Bärfuss ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Der Autor ist in der Schweiz bekannt für seine politischen Stellungnahmen. Sein Thema: Die Leiden des bewussten Zeitgenossen in einer Welt, in der man zwangsläufig schuldig wird. Manche sehen ihn schon in der Nachfolge von Max Frisch.

Von Martin Ebel | 22.03.2017
    Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss.
    Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss. (Frederic Meyer)
    Hagard heißt der neue Roman des Schweizer Autors Lukas Bärfuss. Und mit dem Titel fängt das Rätselraten schon an. Als französisches Adjektiv "hagard" bedeutet es so viel wie "verwirrt, verstört" und könnte gut als Attribut für den Helden dieses Romans dienen.
    Mancher Kritiker ist beim Blättern in Speziallexika aber auch auf einen Terminus aus der Jagd gestoßen, demnach wäre ein Hagard ein Beizvogel im Alterskleid. Vielleicht ist es aber auch schlichter, der Held Philip könnte so mit Nachnamen heißen.
    Der Ich-Erzähler verfolgt den Verfolger
    Mit der Jagd liegt man aber auch nicht falsch, denn der Ich-Erzähler nimmt die Fährte seines Helden präzise am 11. März 2014 auf, an einem Brezelstand am Bellevueplatz in Zürich. Und dann folgt er ihm, der selbst ein Verfolger ist: Philip hat sich einfangen lassen von ein paar pflaumenblauen Ballerinas.
    Denen oder vielmehr ihrer Trägerin geht er nach, ohne selbst bemerkt zu werden oder sich bemerkbar zu machen, bis zum Hauptbahnhof, steigt mit ihr in die S-Bahn, verlässt diese, immer hinter der Ballerinafrau her, bis zu deren Wohnung in einem anonymen Zweckbau am Stadtrand. Dort legt er sich auf die Lauer, verbringt sogar die Nacht vor dem Gebäude, in seinem inzwischen herbeigeorderten BMW.
    "Er fällt er auf den Stand eines Clochards zurück"
    Philip ist Immobilienhändler mit eigener kleiner Firma, er hat ein paar Geschäfte laufen und außerdem ein kleines Kind, das er abwechselnd im Kindergarten und bei einer Tagesmutter deponiert. All dies spielt plötzlich keine Rolle mehr.
    Philip hat nur noch Augen und Sinn für die Unbekannte. Er lässt Termine platzen, nimmt keine Anrufe mehr entgegen, büßt in der Folge sein Portemonnaie ein, sein Handy hat bald keinen Strom mehr. Inmitten einer teuren, durchorganisierten, hoch technisierten Stadtlandschaft fällt er auf den Stand eines Clochards zurück, muss vor S-Bahn-Kontrolleuren davonlaufen, stiehlt Kaffee und Pantoffeln, leidet bald unter Durst, Kälte und Nässe.
    Menschen als bloße Platzhalter für Pflichten, Termine oder Deals
    Warum das alles? Er kommt der Ballerinafrau ja nicht nahe, spricht sie nicht an, hat nur einen vagen Eindruck von ihr, nicht einmal ihr Gesicht gesehen. Für Philip ist sie offenbar weniger ein Ziel als ein Anlass, abzuspringen.
    Abzuspringen aus einem durchgetakteten Leben, das von Pflichten und Terminen bestimmt ist, in dem aber auch die Menschen zu bloßen Platzhaltern für Pflichten, Terminen oder Deals geworden sind: Vera, die Sekretärin; Belinda, die Tagesmutter, der namenlose Sohn.
    Das alles können wir nur vermuten, denn vor Philip ist ein Erzähler geschaltet, der uns von ihm berichtet. Es ist ein Ich-Erzähler, der seinem Autor Lukas Bärfuss so nahe ist, dass man sie gleichsetzen möchte. Philip folgt der unbekannten Frau, der Ich-Erzähler seinem Helden, und wir Leser folgen den Bemühungen des Erzähler-Autors, aus dem Stoff eine Geschichte zu formen, einen Roman.
    Langer Kampf mit dem neuen Roman
    Lukas Bärfuss ist ein enorm produktiver Autor, dessen letzter Roman "Koala", mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet, noch nicht lange zurückliegt, der Theaterstücke und kluge Essays schreibt und sich in der Schweiz politisch engagiert.
    Aber mit "Hagard" hat er offensichtlich lange zu kämpfen gehabt – der Roman war schon für den März letzten Jahres angekündigt und brauchte dann noch ein ganzes Jahr zu seiner Vollendung.
    Kann man denn überhaupt von Vollendung sprechen? Eine schwierige Frage, denn in der Ästhetik der Moderne ist das Runde, Perfekte, Vollendete eher verdächtig. Werke mit diesen Eigenschaften wirken falsch und verlogen gegenüber einer mehr als fehlerhaften Welt.
    Flucht ins Allgemeine
    So war auch "Koala" kein "runder" Roman, sondern zerfiel in drei Teile, die nur mit einigem Wohlwollen als zusammengehörig betrachtet werden konnten. Im neuen Roman "Hagard" nun erleben wir den Kampf des Autors mit seinem Helden und seinem Stoff.
    "Ich weiss alles, und ich begreife nichts", hat er schon am Anfang zugegeben, und im Verlauf des Romans - in Umfang und Struktur eher eine Erzählung – hadert er immer wieder mit dem, was Philip da tut.
    Einmal ist er seiner Figur derart überdrüssig, dass er sie kurzerhand im Vorortzug sitzen lässt und für eine Weile nach Venedig fährt, von wo ihn die allgemeine Morbidität aber schnell wieder nach Zürich zurücktreibt. Weil Bärfuss bzw. sein Erzähler letztlich nicht weiss, warum Philip das tut, was er tut, und wofür sein Handeln eigentlich steht, flüchtet er sich in die Überhöhung, ins Allgemeine.
    "Ein Autor, der wild und politisch grob um sich schlägt"
    Die Nachrichten jener Tage berichten vom verschwundenen Flugzeug der Malaysian Airlines, von der Besetzung der Krim durch die Russen, von einem Autobusunglück. Indizien für eine Katastrophenstimmung, die die Menschen erfasst haben soll – den Autor jedenfalls hat sie längst erfasst.
    Die Welt, wie wir sie kennen, ist dem Untergang geweiht. Der Kapitalismus ruiniert die Erde, "die Maschinen" zerstören den Menschen, vor allem das böse Smartphone.
    In einer solchen Lage, wie kann Philip da seinen Tagträumen nachgehen? - fragt ihn der Erzähler, immerhin sein Erfinder, vorwurfsvoll. Und der Leser findet sich in einen ganz anderen Text versetzt, voller leitartikelnder Tiraden, in denen ein Autor, der an seiner Geschichte zu scheitern droht, wild und politisch grob um sich schlägt.
    "Bärfuss verliert die literarische Fährte bald wieder"
    Es gibt schöne Passagen reinen Erzählens in diesem Roman, wenn der Autor vergisst, dass er mit Philip etwas anstellen will, wenn er ihn einfach in einem Asia-Imbiss sitzen und die Passanten mustern lässt. Da spekuliert und fantasiert diese Figur, zeigt Temperament, Affekte und Aggressionen, gewinnt Kontur und Kolorit.
    Aber diese literarische Fährte verliert Bärfuss bald wieder, der Erzähler und der Leitartikler fallen erneut auseinander. Am Schluss gibt es noch einen veritablen Coup de théâtre, Tod, Verschmelzung und Neustart. Aber auch dieses spektakuläre Finale rettet den Roman nicht mehr.
    Lukas Bärfuss: "Hagard"
    Wallstein, Göttingen 2017. 174 Seiten, 19,90 Euro