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"Lulu" an der Staatsoper München
Zwischen Nymphomanie und Todessehnsucht

Dmitri Tcherniakov bemüht sich, seiner Inszenierung von Alban Bergs "Lulu" an der Bayerischen Staatsoper alle Patina auszutreiben. Er profitiert dabei von einem sehr homogenen Ensemble. "Lulu"-Darstellerin Marlis Petersen überwältigt zudem mit ihrem glasklaren, expressiven Sopran und einer umwerfenden Spiel- und Leidenslust.

Von Jörn Florian Fuchs | 26.05.2015
    Szene mit Bo Skovhus (als Dr. Schön) und Marlis Petersen (als Lulu) an der Bayerischen Staatsoper München, aufgenommen am 20.5.2015
    Szene mit Bo Skovhus (als Dr. Schön) und Marlis Petersen (als Lulu) an der Bayerischen Staatsoper München (imago/DRAMA-Berlin.de)
    Dmitri Tcherniakov ist ein viel gefragter und durchaus berechenbarer Regisseur. Oberflächliche Provokationen sind seine Sache nicht, stattdessen analysiert er die Stücke gern mit viel Tiefenpsychologie. Das Bühnenbild entwirft er selbst, mal hält er alles recht karg und spartanisch, mal schafft er überreiche, oft leicht verschoben naturalistische Räume. Für seine Münchner "Lulu" entschied sich Tcherniakov für eine ebenso reduzierte wie vielseitige Ausstattung: alle drei Akte lang sieht man ein Labyrinth aus Plexiglaswänden. Dadurch entsteht ein ständiger Voyeurismus.
    Die Akteure auf der Bühne können sich ausführlich beobachten und tun das reichlich, das Publikum wiederum hat den Totalüberblick, wird sozusagen zur Nationaltheater-NSA. Weil die Personen sehr exakt geführt sind und es keinerlei abseitige Regieideen gibt, kann man szenisch eine packende, nahezu perfekte Aufführung erleben. Dazu gilt es allerdings in Sitzfleisch und Konzentration zu investieren, weil der Abend mit zwei Pausen über vier Stunden dauert.
    Den Niedergang der zwischen femme fatale und femme fragile schwankenden Titelfigur packt Alban Berg in ein starres Formkonzept, das er durch großen Einfallsreichtum fein auffächert, gleichsam transzendiert. Dies ergibt dichte, immer neu gestaltete Klangräume und manchmal fast zu schöne Linien für die Gesangssolisten. Hinzu kommen orchestrale Intermezzi, die spätromantisch süffig tönen. Dazu stellt Tcherniakov unterschiedliche Paare ins Glaslabyrinth, die erst liebevoll flirten und tanzen, später zunehmend gewalttätig werden und gegen Ende fast nackt und sehr kraftlos herum stehen. Die mittel schicken, matt bunten Kostüme verweisen in die Gegenwart und Tcherniakov ist sichtlich bemüht, dem Werk alle Patina auszutreiben.
    Überwältigende "Lulu"
    Lulu erscheint als psychisches Wrack, nur mit Dr. Schön verbindet sie eine echte Liebesbeziehung, die allerdings den Abgrund immer schon in sich zu tragen scheint. Alle weiteren sie umwerbenden Männer und die lesbische Gräfin Geschwitz prallen an Lulu ab wie falsch gepolte Magneten. Wenn sie nach einer Odyssee von anderen zugefügten sowie eigenen, erlebten Verletzungen schließlich auf den Frauenmörder Jack the Ripper trifft, dann braucht dieser mit seinem Messer gar nicht zuzustechen. Lulu erledigt die Sache gleich selber.
    Marlis Petersen überwältigt mit ihrem glasklaren, expressiven Sopran und einer umwerfenden Spiel- und Leidenslust. Bo Skovhus überzeugt in der Doppelrolle Dr. Schön / Jack the Ripper, Matthias Klink stattet Dr. Schöns Sohn Alwa mit herzzerreißendem Sehnsuchtsmelos aus. Ein Maler arbeitet ständig an einem Bild Lulus, doch es handelt sich nur um eine Silhouette, um etwas, dass die Polizei bei Verkehrsunfällen oder Gewalttaten auf die Straße zeichnen lässt. Daniela Sindrams Gräfin Geschwitz und Pavlo Hunkas Schigolch sind weitere tolle Stimmen in einem sehr homogenen Ensemble.
    Kirill Petrenko dirigiert die dreiaktige Fassung (Berg konnte den letzten Akt nicht vollenden, Friedrich Cerha ergänzte ihn auf Grundlage des Particells) als großes Hörtheater. Viele Momente besitzen nachgerade szenische Qualität und ergeben gemeinsam mit Tcherniakovs zurückhaltendem Regiekonzept eine interessante Mixtur.
    Größere Teile des Publikums waren von der Inszenierung hörbar verärgert. Vielleicht empfanden manche die Sache doch als zu langatmig. Dieser Vorwurf trifft in gewisser Weise zu, nur müsste er sich an Berg und seinen Vollender Friedrich Cerha wenden. Man könnte Lulus Schicksal durchaus auf einen pausenlosen Zweistünder verdichten.