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Lulu Live

Im Fin de Siècle war Frank Wedekinds Lulu und dessen Entlarvung bürgerlicher Scheinmoral noch etwas besonders. Feridun Zaimoglu hat Wedekinds Lulu-Stoff in die Zeit pornographischer Chat-Rooms verlegt, die Bühnen als Leinwand und Hörraum für Themen wie Zwangsprostitution und Käuflichkeit von allem.

Von Sven Ricklefs | 23.10.2005
    Sie nennen sich Geilo und Superspanner, scharfer Hengst, Rammler oder auch Sklaventopf, sie zahlen 3,90 pro Minute und dafür bekommen sie das von Lulu, was sie wollen: einen Hardcore-Dialog ganz nach eigenem Geschmack und persönlichen Wünschen und ansatzweise dazu: das entsprechende Livegeschehen per Webcam. Diese moderne Internetvariante der Prostitution ist eine der Komponenten, aus denen das Team Luk Perceval, Feridun Zaimoglu und Günter Senkel sein Stück zusammengesetzt hat. Lulus Chatroomdialoge mit Geilo oder Sklaventopf, die auf detailgenauen Recherchen im World-Wide-Web basieren, laufen in Endlosfolge über jene riesige Leinwand, die zugleich den Blick in den Bühnenraum der Münchner Kammerspiele fast verweigert. Nur an den Rändern kann man etwas von dem den Abend bestimmenden technischen Equipment sehen. Oder man sieht Ausschnitte der Schauspieler, deren Körper sonst primär nur als Schattenrisse oder in technisch-verfremdeter Videoprojektion über die Leinwand flimmern

    Wie schon die eigentlich Lulu (von Frank Wedekind) so scheint auch dieser hier ihr Körper und damit der Sex als einzige Überlebensstrategie zur Verfügung zu stehen. Frank Wedekind ließ seine Lulu vor 100 Jahren gleichsam im freien Fall durch die bürgerliche Welt seiner Zeit stürzen, indem sie auf jeder Station Opfer einer Männerprojektion wurde, um schließlich dann von Jack the Ripper dem Prostituiertenkiller gemetzelt zu werden. Bezeichnenderweise schneidet er ihr das Geschlecht heraus und macht sie damit auf die brutalste Art unnutzbar. Auch in der modernen Welt der Lulu der Münchner Kammerspiele ist jegliche Form der Menschlichkeit auf eine menschliche Nutzbarkeit reduziert, ein gleichsam pornographisches Phänomen, das Kritiker des Neoliberalismus längst in allen Phänomenen unserer Gegenwart ausmachen. Doch als diese Lulu hier am Schluss aussteigen will, als sie schon wie eine Deserteurin die Projektionsleinwand halb aus dem Gestänge gerissen hat, als sie sagt: Ich hau jetzt ab, da erscheint auf eben dieser Leinwand das Gesicht des Schauspielers Peter Brombacher, der ihr ihre Lebensgeschichte erzählt: die Geschichte vom Findelbaby, das schon immer bei ihm war, das bereits mit 3 Jahren den ersten Kunden zugeführt wurde und mit 10 das gesamte Kinderheim, wo sie lebten, ernährte. Aus dieser Geschichte gibt es kein Entkommen. Und so wird diese Lulu bleiben, wo sie ist, gefangen in den Mechanismen der Nutzbarkeit, als programmierte Ware eines gnadenlosen Marktes. Dass dieser Markt noch immer in jenen Strukturen fußt, die wir gemeinhin als familiäre betrachten, wird im Laufe Theaterabends deutlich. Da werden jene schriftlichen oder fernmündlichen Kontakte, die zugleich als Schattenrisse auf der Leinwand in unheimlichen Begegnungen auch optisch ihren Ausdruck finden, da werden eben diese Kontakte mehr und mehr durch alltägliche Konflikte und Bekenntnisse menschlicher Ängste überlagert. Und so zeigt sich diese Gemeinschaft von Sexworkerinnen und ihrer Zuhälter und Kunden zugleich auch als das, was sie noch immer ist: eine menschliche Gemeinschaft, ein Mikrokosmos, der sogar noch in die Welt dieses Theaters hineinragt, indem sich die Schauspieler manchmal fast zärtlich bei ihren eigentlichen Namen nennen und sich damit wohl auch als das outen, was wir alle sind, Teilnehmer einer pornographisierten Welt.

    Lulu-live ist ein ungewöhnliches Projekt auf den Grenzen theatraler Möglichkeiten, ebenso anspruchsvoll wie verstörend, ein Projekt, dem es gelingt, jene merkwürdig grenzenlose und dabei so armselige Welt des Internetkontakts in eine Bühnenästhetik zu übersetzen. Da das hochemotionale Thema Kinderprostitution erkennbar in einem sehr gruppenintimen Akt zwischen Improvisation und persönlichen Geschichten entstanden ist, wird sich wohl diese Produktion wieder in freier Variation fortentwickeln, wie dies schon der inzwischen zum Münchner Kult avancierte Othello-Kanack-Version tut, die ebenfalls von dem Team Zaimoglu, Senkel, Perceval stammt. Einmal mehr aber stellen die Kammerspiele eine Produktion vor, die das Theater an sich vorantreibt.