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Lust, Freude und Begierde

Alle Menschen, ja alle Lebewesen streben nach Lust - schon der antike Denker Epikur wusste das. Aber was unter Lust zu verstehen ist, das hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Eine internationale Tagung an der Universität Würzburg beleuchtet die Themen Hedonismus und Lust in der Philosophie.

Von Peter Leusch | 22.04.2010
    Wenn wir also sagen, dass die Lust das Lebensziel sei, so meinen wir nicht die Lüste der Wüstlinge und das bloße Genießen, sondern wir verstehen darunter, weder Schmerz im Körper noch Beunruhigung in der Seele zu empfinden.

    In einem Brief an den Schüler Menoikeus ist Epikur dem Missverständnis seiner Lehre entgegengetreten.

    Nicht Trinkgelage und ununterbrochenes Umherziehen und nicht Genuss von Knaben und Frauen und von Fischen und allem anderen, was eine reiche Tafel bietet, erzeugt das lustvolle Leben, sondern die nüchterne Überlegung, die die Ursachen für alles Wählen und Meiden erforscht und die leeren Meinungen austreibt, aus denen die schlimmste Verwirrung der Seele entsteht.

    Alle Menschen, ja alle Lebewesen streben nach Lust - Epikur wusste das lange vor Sigmund Freud. Aber was unter Lust zu verstehen ist, das hat der antike Denker im Gegensatz zur Psychoanalyse offen gelassen. Denn sein Lustprinzip hat Epikur nur ex negativo bestimmt: Lust ist Vermeidung von Unlust, Freisein von Schmerz.

    Diese Definition erscheint dürftig und vage. Aber Epikur bezweckt mit seiner Konzeption, dass der Einzelne einen lebensklugen Umgang mit seinen Bedürfnissen und Wünschen entwickelt. Dabei kann das Lustprinzip auch Askese bedeuten, so der Würzburger Altphilologe Professor Michael Erler.

    "Lust ist wählbar, aber man soll abwägen, nicht jede Lust ist gleich wählbar, ein Beispiel dafür: Wein trinken ist natürlich etwas Schönes, aber im Übermaß weiß man, das hat schädliche Wirkungen für den nächsten Tag, sodass also die vernünftige Überlegung - bezeichnenderweise nennt er das nüchterne Überlegung - darauf aus ist abzuwägen. Es kann besser sein, eine Lust beiseitezulassen, um dann in der Folge eine größere zu gewinnen."

    Der neue Blick auf Epikur zeigt einen ausgesprochenen rationalen Denker, einen Aufklärer, der daran interessiert ist, dem Menschen zu einer inneren Souveränität zu verhelfen: Sich nicht an die Dinge hängen, schon gar nicht unerfüllbaren Träumen nachjagen und darüber unglücklich werden - Epikur rät dem Einzelnen je nach Situation zur Selbstgenügsamkeit, nicht etwa, um äußeren Normen oder Regeln zu entsprechen, sondern um möglichst unabhängig und autark zu sein.

    Die Vermeidung von Unlust führe zu innerem Gleichmut, zur Seelenruhe: Ataraxia, wie es bei Epikur heißt.

    Epikur ist also kein Verfechter hemmungslosen Genießens, er ist gar kein Hedonist im strengen Sinne des Wortes, erläutert Privatdozent Wolfgang Rother, der Philosophie an der Universität Zürich lehrt.

    "Wir haben heute in verschiedenen Vorträgen gehört, dass Epikur möglicherweise gar kein Hedonist war, dass sein Ziel die Ataraxie, die Unerschütterlichkeit der Seele, die Seelenruhe war, also Abwesenheit von Schmerz. Es ist ein Zustand, der als Lust beschrieben ist, der eigentlich sehr weit entfernt ist von positiver Lust, von dem, was wir modernen Menschen unter Lust verstehen, und ganz zentral für Epikur ist die nüchterne Überlegung. Es ist eigentlich das Lustkalkül, der Versuch, Lust und Vernunft miteinander zu verbinden, der Epikur auszeichnet."

    Der Körper will nur: Nicht hungern, nicht dürsten, nicht frieren. Die Seele will nur: ,Nicht Angst haben. Mit diesen Worten hat Epikur die existenziellen Ursachen der Unlust markiert, auf die seine Philosophie zu antworten versucht. Und seine philosophische Arznei gegen die Ängste, vor allem seine Haltung zur Religion sind ein weiterer Grund, warum Epikur im christlichen Mittelalter und auch über weite Strecken in der Neuzeit verkannt, verfemt und sogar vergessen wurde. Wie Sokrates hatten ihm schon die Zeitgenossen Gottlosigkeit vorgeworfen und dass er die Moral untergrabe, so Professor Günther Mensching, der bis zu seiner Emeritierung Philosophie in Hannover lehrte.

    "Man hat ihm natürlich vorgeworfen, dass er in dem Garten, den er gemietet oder gekauft hatte, mit seinen Schülern eigentlich nur das gute Leben praktiziere, und sich ansonsten nicht um die Polis kümmere. Ein Vorwurf, der nicht ganz unberechtigt ist. Dass er im Grunde ein Mensch sei, der die Sitten verdirbt. Aber das hängt damit zusammen, dass seine Hauptbestrebung war, den Menschen die Angst zu nehmen, sie also von der Angst zu befreien, von der Angst vor den Göttern, von der Angst vor irgendwelchen Schicksalsmächten, von der Angst vor den Sternen. Und allen solchen Dingen, wogegen er dann die Wissenschaft setzte, also die Wissenschaft selber ist es eigentlich, die den Menschen die Angst wegnimmt, und sie damit einer lustvolleren Daseinsform zuführt."

    Epikur war kein Atheist. Er hielt an den Göttern fest, zeichnete von ihnen jedoch ein angstentlastetes Bild. Es sind heitere weltabgewandte Wesen, die ihr unsterbliches Leben genießen. Im Grunde sind die Götter schon im Zustand jener Eudaimonia, jenes glücklichen Lebens, das die Menschen erst noch anstreben.

    Epikurs Lustlehre integriert sich in ein umfassendes Konzept der Lebensführung, in eine philosophische Lebenskunst, die mit Reflexion und diesseitiger Heiterkeit den Weg zu einem geglückten Leben weisen will. Denn Glück ist Epikur zufolge für den Menschen erreichbar, freilich nicht jenes rauschhafte Hochgefühl des Augenblicks, wie es die Gegenwart versteht, sondern der Zustand eines gelungenen Lebens. Michael Erler:

    "Es geht um eine Auffassung von Glück, die von einer bestimmten Verfasstheit des Menschen ausgeht, also nicht von dem was man modern Glücksgefühle nennt, sondern von einer Disposition zu einem erfüllten Leben hin, insgesamt, und zwar mit Blick darauf, dass man sich diesen Zustand selbst verschaffen kann, dass es Möglichkeiten, Techniken gibt, sich diesen Zustand des Glücks zu erarbeiten, der eben von Epikur propagiert wird."

    Epikurs Lustphilosophie könnte ein Maßstab sein, mit dem die postmoderne Spaß- und Genusskultur sich selbst auf ihr Niveau hin befragt. Direkt anknüpfen an Epikur lässt sich heute wohl nur bedingt. Zum einen, weil er sich ausschließlich an den Einzelnen wendet und keine Vorstellung von einer guten Gesellschaft entwickelt. Zum anderen befremdet sein grenzenloses Vertrauen in Vernunft und Wissenschaft. Heute weiß man, dass Wissenschaft und technischer Fortschritt neben den Lösungen auch selber neue Fragen und Probleme hervorbringen.

    Aber Epikurs lustbasierte Philosophie könnte die Schlagseite der modernen Ethik korrigieren. Immanuel Kant schrieb - gegen Epikur und die gesamte Antike gewandt -, das Prinzip der eigenen Glückseligkeit in der Ethik sei verwerflich. Aber seine eigene Ethik ist einseitig an der Pflicht, am Sollen ausgerichtet. Dagegen orientierte sich Epikur und die Antike am Wollen, an der Frage, was ist ein gutes Leben.