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Lynchjustiz
Geschichte der Todesstrafe in den USA

Die Selbstverteidigung hat, wie der Waffenbesitz, in Amerika Tradition – bis hin zur Lynchjustiz. Einher damit geht das Misstrauen gegenüber der Staatsgewalt. Die Anwendung der Todesstrafe ist in einer gewaltgewohnten Gesellschaft verständlicher. Manfred Bergs Buch "Lynchjustiz in den USA" klärt über die Hintergründe auf.

Von Katja Ridderbusch | 17.03.2014
    Zeitgenössisches SW-Foto: Am 5.3.1926 wird im Gefängnis in Lexington im US-Bundesstaat Kentucky Ed Harris (M, mit Kapuze) unter Ausschluss der Öffentlichkeit gehängt. Er war wegen Vergewaltigung und Mord an einer jungen Frau verurteilt worden.
    Todesstrafe durch Erhängen: 1926 in Lexington, Kentucky. (upi)
    Eine Kleinstadt in Mississippi, im Sommer des Jahres 1955. Hier verbringt der 14-jährige Emmett Till aus Chicago seine Schulferien. Er will sich vor seinen Freunden großtun - und flirtet mit der Besitzerin eines Lebensmittelladens. Das Problem: Die Frau ist weiß, der Junge schwarz. Drei Tage später ist er tot, seine Leiche grausam zugerichtet.
    "Fest steht, dass der mit der "Rassenetikette" des tiefen Südens nicht vertraute Jugendliche aus dem Norden den schlimmsten Fehler begangen hatte, der einem männlichen Schwarzen dort unterlaufen kann." Und zwar: respektlose Worte an eine weiße Frau zu richten.
    Das schreibt Manfred Berg, Nordamerikahistoriker an der Universität Heidelberg. Sein Buch "Lynchjustiz in den USA" widmet sich Geschichte und Wirkung der Mobgewalt in Amerika, von der Kolonialzeit bis in die Gegenwart. Berg hat in den USA studiert, gelehrt und geforscht. Und bleibt denn auch dem Stil amerikanischer Sachbücher treu: sauber im wissenschaftlichen Gehalt; dabei spannend und griffig geschrieben. Lynchjustiz habe in den USA eine besondere Ausprägung, sagt Berg.
    Rassistische Gewalt
    "Der erste Faktor ist ein tief sitzendes Misstrauen gegen das staatliche Gewaltmonopol. Lynchjustiz ist in diesem Sinne auch eine Art basisdemokratischer Anspruch auf Mitwirkung des Volkes in der Strafjustiz. Die zweite Komponente ist der Rassismus, wurzelnd in der Geschichte der Sklaverei."
    Der Autor fächert die Geschichte der Lynchjustiz in Amerika auf - chronologisch, geografisch und demografisch. Vor allem in zwei Regionen gehörte das Lynchen zum Alltag: "Der amerikanische Süden und der amerikanische Westen haben seit dem frühen 19. Jahrhundert bis heute ein signifikant höheres Gewaltniveau als der Nordosten der USA."
    Mehr als 80 Prozent der erfassten Lynchmorde fanden zwischen 1882 und 1946 in den Südstaaten statt. Dort war nach dem Bürgerkrieg das Erbe der Sklaverei noch immer lebendig - die Überzeugung von der "White Supremacy", der Vorherrschaft der weißen Rasse, sowie die fast pathologische Angst vor einer drohenden, wie es damals hieß: "Negerherrschaft".
    Gewalt des "Wilden Westens"
    Die zweite Hochburg des Lynchens war die "Frontier", die Siedlergrenze im Westen. Selbstjustiz im Wilden Westen - das ist in der kollektiven Vorstellung nicht nur der Amerikaner fest verankert, auch dank bildgewaltiger Interpretationshilfe aus Hollywood. Da kommt die Lynchjustiz oftmals als legitime Notwehr rechtschaffener Bürger daher, die sich vor Viehdieben, Desperados, Outlaws und Banditen zur Wehr setzen mussten und das Gesetz selbst in die Hand nahmen. Manfred Berg:
    "Eine der Höhepunkte der Lynchjustiz im Westen ist der kalifornische Goldrausch in den späten 1840er und frühen 1850er Jahren, wo es eine Vielzahl von jungen Männern gab, die schnell aneinander geraten, wo es ein hohes Gewaltpotenzial gibt und eine schwache Staatsgewalt."
    Die meisten Opfer von Lynchgewalt waren Afroamerikaner, mehr als 80 Prozent allein in den Südstaaten. Die Strafen reichten vom Federn und Teeren bis zu Folter und Mord. Es gehörte nicht viel dazu, den Zorn eines Mobs auf sich zu ziehen, schreibt Berg:
    "Da Schwarze angeblich immer auf eine Gelegenheit lauerten, weiße Mädchen und Frauen zu missbrauchen, gab es praktisch keine unverfänglichen Situationen. Ein junger, offensichtlich analphabetischer Afroamerikaner wurde 1917 in Georgia gelyncht, weil er ein weißes Schulmädchen gebeten hatte, ihm einen Brief vorzulesen."
    Vor allem in den Jahren nach dem Bürgerkrieg inszenierten die Lynchmobs ihre Taten oft als grausame öffentliche Rituale. Berg erspart den Lesern hier keine Details: Die Opfer wurden verstümmelt und bei lebendigem Leib verbrannt. Ihre Leichen wurden zur Belustigung und Belehrung der Menschen durch die Straßen geschleift. Bürger ließen sich mit den Toten fotografieren, Händler verkauften Leichenteile.
    Straflose Gewalt
    "Diese Lynchrituale sind ja mit Menschenopfern verglichen worden. Ein damit einhergehendes Moment ist die Erwartung der Straflosigkeit. Es gab so gut wie keine ernsthafte Strafverfolgung gegenüber den Exekutoren."
    Das Ende der Lynchjustiz kam in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, schleichend und unspektakulär. Es gab keinen Massenprotest, kein Gerichtsurteil, kein Gesetz. Vielmehr war es - davon ist Berg überzeugt - die erfolgreiche Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols, die die Lynchjustiz schließlich überflüssig machte. Die Kehrseite der Medaille war, dass mehr Todesstrafen verhängt und vollstreckt wurden.
    "In der Tat lässt sich eine Verbindung herstellen zwischen dem Absinken der Lynchjustiz und dem Ansteigen der staatlich sanktionierten Todesstrafe. Deswegen haben einige Historiker auch argumentiert, dass zum Teil der Staat die Funktion des Mobs übernommen hat."
    Lynchjustiz gehört in den USA der Vergangenheit an. Dennoch: Das Gewaltpotenzial in der amerikanischen Gesellschaft ist unvermindert groß; die Mordrate in den USA liegt fünfmal höher als in Westeuropa. Deshalb stehe das Verständnis von Bürgertugend in Amerika denn auch in einer gewissen Kontinuität der Lynchjustiz, meint der Autor:
    "Es gibt keine andere westliche Demokratie, die ein derart expansives Konzept legitimer Selbstverteidigung hat wie die USA, einschließlich des nahezu unbeschränkten Zugangs zu Waffen. Dahinter steht die Vorstellung, dass der Bürger nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht hat, sich und seine Familie vor Gewalttätern zu schützen."
    Legitimierte Gewalt
    Und so dürften Fälle wie der von George Zimmerman auch künftig zum Alltag in den USA gehören. Der erschoss als Mitglied einer Nachbarschaftspatrouille 2012 in Florida den schwarzen Jugendlichen Trayvon Martin, machte Notwehr geltend und wurde freigesprochen.
    "Lynchjustiz in den USA": Manfred Berg hat ein Buch über die Geschichte geschrieben, das zugleich einen Finger in die Wunden der Gegenwart legt. Ein Buch, das über die hellsichtige historische Analyse zu einer passgenauen Zustandsbeschreibung der amerikanischen Gesellschaft im beginnenden 21. Jahrhundert führt - und damit gleich doppelte Aufklärungsarbeit leistet.
    Manfred Berg: Lynchjustiz in den USA. Hamburger Edition, 274 Seiten, 32 €,
    ISBN: 978-3-868-54273-8