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Lyrik und Deportation

Meine Gedanken

Von Sieglinde Geisel | 28.10.2004
    Weiße Lämmer
    Den ganzen Tag
    Träge
    Reglos
    Eines ruht im Schatten des anderen
    Sie warten auf den Abend
    Bis es Zeit ist, dass man sie holt
    Dann stürzen sie hungrig herbei
    Und weiden bis zum Sonnenaufgang
    Auf den blauen Wiesen meiner Träume.

    Die Aufgabe des Dichters bestehe darin, mit Worten an einen Ort zu gelangen, wo vor ihm noch niemand war. Dies sagte der russische Dichter Joseph Brodsky, und man darf seine Worte auch auf die Lyrik von Apti Bisultanov anwenden. Er gilt als bedeutendster tschetschenischer Dichter der Gegenwart. In den vergangenen Wochen wurde er des Öfteren um Interviews gebeten. Allerdings ging es dabei nie um seine Gedichte, sondern um die Lage in Tschetschenien und die Tragödie von Beslan.

    Wer immer das getan hat: Es ist die bisher fürchterlichste und schrecklichste Widerspiegelung des tschetschenischen Krieges. Ich sage Ihnen: Beslan, das ist Tschetschenien. Während der letzten fünf Jahre sind in Tschetschenien nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen mindestens 40. 000 Kinder umgekommen, mindestens.

    Vor dem Krieg arbeitete Apti Bisultanov als Redakteur und Lektor, und während des ersten Tschetschenienkriegs blieb er noch Dichter. Als 1999 jedoch der zweite Tschetschenienkrieg ausbrach, wollte er nicht wieder Opfer sein, sondern schloss sich den Partisanen an. Nur durch die Ereignisse sei er in die Politik hineingezogen worden, die ihm die Zeit für seine eigentliche Arbeit nehme, meint Bisultanov.

    Aber das ist mein Leben. Das Wichtigste ist, dass ich natürlich bin und aufrichtig. Ich würde sehr gern ein Jahr von den Tagen, die mir im Leben noch geblieben sind, nur der Kunst widmen.

    Die Leiden des tschetschenischen Volks, die Kriege aus Jahrhunderten, die Deportation unter Stalin und schließlich die Tragödie des jetzigen Kriegs – diese Ereignisse sind Stoff vieler Gedichte von Apti Bisultanov. Doch in dem Band Schatten eines Blitzes gibt es auch andere Gedichte, die sich mit dem Wesen des Menschen überhaupt auseinandersetzen. Sie sind von Melancholie gefärbt. So zum Beispiel das Gedicht mit dem Titel "Röntgen". Es geht vom Bild einer Röntgenaufnahme aus, die den menschlichen Körper blosslegt.


    O dieser nackte Baum
    Als sähe ich mich selbst

    Das runde Nest im Geäst
    Mein Herz
    Im Rippengestrüpp

    Erste Schneeflocken fallen ins Nest
    Die erste Trauer des Alters
    Tropft
    In die runde Tasse des Herzens



    Der wunderbare Federico Garcia Lorca hat gesagt: Das Traurigste auf dieser Welt ist es, ein Dichter zu werden. Dichten ist die traurigste Freude.

    Schon seit seiner Kindheit hatte sich Apti Bisultanov der Dichtkunst hingegeben. Auch die tschetschenische Tragödie war seit seiner Kindheit präsent. Die Geschichte seiner Familie ist vom Trauma der Deportation geprägt, wie Apti Bisultanov erzählt:

    Mein Vater ist sehr früh gestorben, da war ich erst 6 Jahre alt. Er ist an einer Verwundung gestorben, die er im zweiten Weltkrieg bei Leningrad bekommen hat. Trotz seiner Verwundung kämpfte er weiter, doch 1944 wurde er direkt von der Front nach Kasachstan deportiert, als Volksfeind. Meine Mutter hatte 10 Kinder, und fünf von ihnen sind in Kasachstan verhungert. Und von den letzten fünf bin ich der einzige, der in der Heimat geboren ist.

    Die Deportation ist das Thema des längsten Gedichtes in dem Band. Es trägt den Titel "Chaibach" und ist vor zwanzig Jahren entstanden. Chaibach ist der Name eines Dorfs und steht für eines der grausamsten Verbrechen jener Zeit. Im Februar 1944 lag in den Bergen hoher Schnee, so dass die Deportation des Dorfs Chaibach nicht möglich war. Der Kommandant liess daraufhin 700 Dorfbewohner in einen Stall sperren, um sie bei lebendigem Leib zu verbrennen. Eine Geschichte, die Apti Bisultanov sein Leben lang verfolgt hat. In dem Gedicht "Chaibach" experimentiert er mit verschiedenen Genres der tschetschenischen Literatur: Gesänge und Gebete, die im Tschetschenischen rezitiert werden. Auch wenn man von dieser fremdartigen, wundersamen Sprache kein Wort versteht, kann man sich ihrem Reiz nicht entziehen. Wortwiederholungen, Reime und eine dramatische Entwicklung sind auch für den deutschen Hörer sofort erkennbar, wenn Apti Bisultanov sein Poem rezitiert.

    In Tschetschenien selbst allerdings rezitiert heute niemand mehr Gedichte. Das liegt nicht nur daran, dass es im Krieg niemanden mehr gibt, der sie rezitieren könnte.

    Die Situation ist heute so, dass die Menschen die Schönheit nicht sehen wollen.

    Nach Auschwitz könne man keine Gedichte mehr schreiben, meinte Adorno.

    ... und so ist es auch ganz klar, dass es in Tschetschenien keine Poesie mehr gibt.

    Nur zehn Gedichte des Bandes sind während des Krieges entstanden, denn im Krieg verstummt die Dichtung. Für Apti Bisultanov ist der Krieg kein Tabuthema, sondern eine Erfahrung. So gebe es im Krieg eine eigenartige Harmonie: Die Dinge sind, was man sie nennt. Ein Feind ist ein Feind, ein Freund ein Freund. Schmerz ist Schmerz und Freude ist wirklich Freude. Eine solche Eindeutigkeit allerdings lässt keine Metaphern zu, und eine Zeit lang konnte Apti Bisultanov sich nicht vorstellen, dass er je wieder Gedichte schreiben würde. Als er vor zwei Jahren nach Deutschland ging, verabschiedete er sich von seinem Land mit einem Gedicht, das den Titel trägt: "Das erste Gedicht beim Verlassen Tschetscheniens".

    Mit beiden Händen
    Das Herz fassen
    Diesen alten Igel
    Und alle Wunden
    Mit einer Schusterahle
    Fest vernähn
    Wie man Stiefel flickt
    Und reisen
    In alle Himmelsrichtungen
    Und schweigen
    Wenigstens
    Bis ans Ende des Lebens
    Aber -