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Lyrik von Christine Lavant
Späte Würdigung einer mutigen Dichterin

Oft wurde die 1973 verstorbene Kärntner Schriftstellerin Christine Lavant als dichtendes Kräuterweib verkannt. Als Band I der vom Wallstein Verlag geplanten Werkausgabe sind nun sämtliche "Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte" erschienen. Sie ermöglichen die Wiederentdeckung einer außergewöhnlichen Dichterin.

Von Carola Wiemers | 27.10.2014
    Christine Lavant: "Erinnerung an ein Abendgebet
    Eine freundliche Nacht, die das Zimmer behellt,
    weil die Mutter die Lampe so tief abgedreht,
    dass nur die Spur eines Lichts auf die Arbeit ihr fällt,
    und ringsum das Atmen der Schwestern.
    Und ein Nachklang vom endlosen Abendgebet
    und alles Schwere von gestern.
    Ob der heilige Josef wohl helfen kann,
    dass die Schwester den Posten wird kriegen?
    Und das mit der Stube, damit nimmer dann
    der Bruder im Keller muss liegen.
    Ob der liebe Gott bestimmt allmächtig ist
    und ob er am Ende nicht doch noch vergisst,
    dass die Mutter kein Geld für die Milch hat.
    Ich will auch nicht weinen, wenn morgen beim Bad
    die Wunden mir wieder so brennen
    und wenn die Augen verschwollen sind
    und wenn sie mich schimpfen: "Die Kröte ist blind!" –
    die anderen Kinder und rennen.
    Sie sollen auch nicht, wie ich gestern gesagt,
    dafür in die Hölle dann kommen,
    wenn bloß unsere Mutter nicht mehr so verzagt
    und wenn wir die Stube bekommen.
    Und mein Herz ist so klein,
    es darf niemand hinein, als du, mein liebes Jesulein."
    Christine Lavants poetische "Erinnerung an ein Abendgebet" ist nur als Mitschnitt einer Lesung erhalten, die vermutlich aus dem Jahr 1961 stammt. Dass ein Text wie dieser überhaupt geschrieben werden konnte, grenzt an ein Wunder.
    Als jüngstes von neun Kindern wird sie als Christine Thonhauser am 4. Juli 1915 in ärmliche Verhältnisse hineingeboren - der Vater arbeitet im Bergbau, die Mutter verdient sich als Flickschneiderin. Bereits als Zwölfjährige hat sie soviel Leid erfahren, wie sich nur denken lässt. Im Alter von fünf Wochen erkrankt sie an Skrofulose - einer aggressiven Geschwulst, die auf Brust, Hals und Gesicht wütet -, später an chronischer Lungenentzündung und an Tuberkulose. Schließlich sehen die Ärzte keine andere Möglichkeit, als das todgeweihte Kind einer hochdosierten Röntgenbestrahlung auszusetzen. Christine Lavant überlebt - doch ihr Seh- und Hörvermögen ist erheblich beeinträchtigt. Aufgrund von Vernarbungen im Gesicht, als einer Spätfolge der Strahlentherapie, wird sie von den Dorfbewohnern gemieden und verhöhnt.
    Oft als dichtendes Kräuterweib Verkannte
    Mit ihrem Pseudonym Lavant, das sich auf den Fluss in ihrem Heimattal bezieht, versucht sich die oft als dichtendes Kräuterweib Verkannte anfänglich zu schützen.
    Jahrzehnte später, im Juni 1960, teilt die 45-Jährige der befreundeten Schriftstellerin Hilde Domin mit, sie hätte geträumt, "in einem Abort eingeschlossen" zu sein, "mit nichts darin als einem Eimer voll Glut und einem eisernen Rechen", sodass die Angst ihr die Kehle zuschnürte. Im Erwachen wusste sie, dass dieser Traum ihr Leben symbolisiert.
    Im Gedicht "Abwendig hängt der Mond im Dunst", das dem Gefühl totaler Vereinzelung in nahezu archaischen Bildern Ausdruck verleiht, scheinen sich sogar die Gestirne von dem lyrischen Ich abzuwenden.
    Christine Lavant: "Abwendig hängt der Mond im Dunst,
    mein Herz geht durch die Feuersbrunst
    in glasig harte Kälte.
    Von einer frühen Älte
    befallen sitz ich träg und krank
    auf der verlaßnen Bahnhofsbank
    und fürcht mich aufzustehen.
    Was ist mir denn geschehen? (...)
    Das denk ich immer vor mich her,
    doch oben bleibt die Stelle leer,
    die das noch wissen sollte."
    Erste Schreibversuche Christine Lavants gehen vermutlich in das Jahr 1927 zurück. Im Schreiben findet das schwerkranke Mädchen einen "Ausweg aus sich selbst". Der versehrte Körper wird zum Resonanzraum, in dem echogleich erste poetische Klangsysteme entstehen. Allerdings vernichtet sie 1932 alles, nachdem ihr erster Roman vom Verlag abgelehnt wird. Sie lässt sich in eine Klagenfurter Nervenheilanstalt einweisen und analysiert diesen Selbstversuch in der Studie "Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus". 1946 geschrieben, kann der Text erst 2001 erscheinen, da Christine Lavant bis zu ihrem Tod glaubte, das Manuskript sei verlorengegangen.
    Nach einer intensiven Rilke-Lektüre beginnt sie ab 1945, erneut Gedichte zu schreiben. In nur einem Jahrzehnt entsteht mit den Sammlungen "Die Bettlerschale" (1956), "Spindel im Mond" (1959) und "Der Pfauenschrei" (1962) ihr lyrisches Hauptwerk.
    Band I der vom Wallstein Verlag konzipierten vierbändigen Werkausgabe, die sich als Leseausgabe versteht, enthält nicht nur diese Sammlungen, sondern sämtliche zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichte in einer "neu edierten Fassung". Neben den Sammelbänden "Wirf ab den Lehm" von 1961 und "Hälfte des Herzens" von 1967 wurden das Debüt "Die unvollendete Liebe" aus dem Jahr 1949 - von dem sich die Dichterin später distanziert hat - sowie der Zyklus "Sonnenvogel" aufgenommen. Unter der Rubrik "Verstreute Publikationen" finden sich Erstveröffentlichungen aus Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien. In zwei Nachworten von Doris Moser und Fabjan Hafner werden äußerst detailreich die Entstehungszeit sowie die konfliktreiche Editions- und Rezeptionsgeschichte ihrer Werke skizziert. Ein ausführlicher editorischer Kommentar zu den Gedichten verweist auf den Ort der Erstveröffentlichung und auf unterschiedliche Textfassungen.
    Trotzige Widerständigkeit
    Wer der Dichtung Christine Lavants erstmals begegnet, ist fasziniert von dem resoluten Duktus und der trotzigen Widerständigkeit, die diese Poesie grundiert. Mit zorniger Sprachgeste stellt sich das lyrische Ich dem Schöpfer entgegen, da er "Pfuschwerk" geleistet hat und von einer "Gottesstadt" faselt, "die viele sich erfasten".
    Im Gedicht "Du hast meine einfachen Wege durchkreuzt" wendet sich das Ich enttäuscht von seinen Heilsversprechen ab.
    Christine Lavant: "Du hast meine einfachen Wege durchkreuzt
    und mich am Kreuzweg allein gelassen
    in einer unmenschlichen Landschaft.
    Fröstelnd redet mein Schatten mir zu
    von der Fundkraft deines hochheiligen Namens,
    der jede Richtung zum Ziele führt,
    und vom treuen Gang der Gestirne.
    Aber du wirst meinen Schatten verzehren,
    die Gestirne verlöschen und deinen Namen
    aus meinem Blut und Gedächtnis tilgen,
    um mich ganz zu verwirren.
    Wem hast du meinen Engel geschenkt,
    die Zuflucht meines entsetzten Herzens
    und den Trost meiner Augen?
    Du hast meine einfachen Wege durchkreuzt.
    Ich werde mich niemals wieder bekreuzen,
    so bitter schmerzt mich dies Zeichen."
    Für den Lyriker Thomas Kling war Christine Lavant eine in der Sprache "gezielt Randalierende", deren "Sprachkörpersprache" ganz ohne Tarnung auskommt. Er bezeichnete ihre Texte als ethnologische "Sprachzeugnisse" einer untergegangenen "bäuerlich-vormodernen Gesellschaft".
    Christine Lavant klagt nicht ein privates Schicksal an. In Sprachgesten, die mitunter an Gebete erinnern und eine meditative Rhetorik aufweisen, drückt sich die Krise des modernen Ich aus, dem im tiefen Zweifel an die Liebe und den Glauben auch jegliche Hoffnung auf Erlösung abhanden gekommen ist.
    Umfassende Krisenerfahrung
    Dieser umfassenden Krisenerfahrung begegnet Christine Lavant mit einer Bilderschrift, die auf das Unsagbare, auf jenen hieroglyphischen Kern in der Kunst insistiert, den es zu bewahren gilt. Damit steht ihre Poesie in der Tradition Friedrich Schlegels, der davon überzeugt war, dass uns entsetzlich kalt und bange würde, wäre die ganze Welt restlos verständlich.
    Christine Lavants Bilderschrift, die archaische, aber auch märchen- und volksliedhafte Motive beinhaltet, kommt mit nur wenigen Substantiven aus, die effizient und virtuos eingesetzt werden. In Komposita wie "Mondmühle", "Sonnenbrot", "Herzpfote", "Brunnenstube", "Bettlerfrucht", "Herz"- und "Sonnenrad" erzielen sie ihre atmosphärische Wirkung.
    Christine Lavant: "Das Sonnenrad ging über mich hinweg,
    ich liege tief im Tulpenkelch der Nacht
    und zähl der Sterne gelbe Staubgefäße,
    von denen eines klar sich niederneigt."
    Christine Lavant hat die deutschsprachige Dichtung der Nachkriegszeit in besonderer Weise geprägt und erst spät ein Publikum gefunden, das die feinsinnige Archaik dieser konsequent widerständigen Poetologie verstand. Für Thomas Bernhard war sie gerade darin eine rastlos Suchende, die in ihrer Existenz "durch sich selbst gepeinigt" und in ihrem Glauben "zerstört und verraten" war. Mit der vom Göttinger Wallstein Verlag geplanten Werkausgabe kann diese außergewöhnlich gescheite wie mutige Dichterin in der Tat endlich so gewürdigt werden, wie sie es verdient hat.
    Christine Lavant: Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte.
    Hrsg. und mit Nachworten von Doris Moser und Fabjan Hafner unter Mitarbeit von Brigitte Strasser Wallstein Verlag, Göttingen 2014, 720 Seiten, 38 Euro