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Lyrik von JETZT. 74 Stimmen.

Im Zweifelsfall beugt man eben doch die Knie vor den Altmeistern der Revolte. Der Heroen-Glanz von Rolf Dieter Brinkmann, dem wilden Poeten aus Vechta/Niedersachsen, schien zwar längst verblasst. Aber der verzweifelte Graphomane Brinkmann, so zeigt sich jetzt, ist noch immer die anarchische Vorbildfigur für junge Dichter geblieben. Denn seine Wiedergänger belagern nun die allerjüngste Versammlung einer neuen Dichter-Generation, die sich unter dem grammatisch eher zweifelhaften Titel "Lyrik von JETZT" ihr anthologisches Manifest gegeben hat.

Michael Braun | 01.08.2003
    Natürlich ist diese neue Generation nicht so naiv, sich gänzlich dem Traditionszertrümmerer Brinkmann hinzugeben. Was sich da mit sehr eigenen Wahrnehmungsweisen und individuellen Abweichwinkeln in dieser Anthologie tummelt, bewegt sich durch die unterschiedlichsten lyrischen Galaxien: von Mandelstam bis Brinkmann, von Rilke bis Rühmkorf, von Leonard Cohen bis Jimi Hendrix – und weit darüber hinaus.

    Aber bei mindestens vier der insgesamt 74 Autoren, nämlich bei Jan Volker Röhnert, Björn Kuhligk, Crauss und Tom Schulz, ist Brinkmann die ultima ratio der Poesie, die man mittels stilistischer Mimesis und peinlich devoter Reminiszenzen heraufbeschwört. Und hätten sich die lyrischen Erbschaftsanwärter Brinkmanns nicht jedes allgemeingültige Bekenntnis verboten - sie könnten von dem radikalen Anti-Traditionalismus ihres Vorbilds durchaus profitieren. Denn der "Lyrik von JETZT" ließe sich als Motto eine lässige Sentenz Brinkmanns aus dem Band "Westwärts" implantieren: "Ein neuer Realismus entstand, er stand rum."

    Denn es ist – schon wieder – ein "neuer Realismus", ein sehr alter Bekannter also, der sich da in sehr vielen Texten der Anthologie breit macht. Es kennzeichnet die trübe Sprachrealität dieser Gedichte, dass die Realien des Alltags schon für Poesie genommen werden und sich eine hemmungslose Sentimentalität Bahn bricht. So bedichtet der Slam-Poet Kersten Flenter in furchtloser Schlichtheit das Einmaleins der Liebe: "Wir verbringen schon lange/ Zeit / Miteinander reden / Sitzen im Café / Oder vögeln / Dann eines Abends / Danach / Bemerke ich / Deine Zahnbürste in meinem Bad..." - solche unbedarften Notate hat der strenge Lyrik-Leser Peter Wapnewski vor vielen Jahren schon treffend "Tagebuch im Stammel-Look" genannt.

    In poetologischer Hinsicht hat diese Gedichtsammlung schon vorab kapituliert. Björn Kuhligk und Jan Wagner, die Herausgeber der "Lyrik von JETZT", haben sich von jedweder Differenzierungsanstrengung dispensiert; sie bekennen sich zur schalen Neutralität einer – wie es heißt - "dokumentarischen Anthologie". Aber was ist das doch für ein ästhetisch taubes Wesen, diese "dokumentarische Anthologie"! Denn wer nur "dokumentiert", der sieht ab von stilistischen und qualitativen Differenzen, der verlässt sich auf positivistischen Sammelfleiß, ohne dem Stimmen-Konzert eine lyrische Kontur zu geben. Der stellt biedere Stilübungen neben avanciertes Sprechen, der gibt sich mit dem Bündnis von Mittelmaß und Einzigartigkeit, von massenhafter Epigonalität und minoritärer Avantgarde zufrieden.

    Wer – wie in diesem Fall - jedem Autor unterschiedslos vier "Sprachfenster" zugesteht, der sorgt für die rigide Nivellierung der himmelweiten Rangunterschiede. Das Ergebnis dieser poetischen Indifferenz ist dann eben ein lyrischer Gemischtwarenladen, in dem man die wirklich singulären Dichter, etwa den großartigen Mythologen und Geschichtsbeschwörer Uwe Tellkamp, mit der Lupe suchen muss.

    Von den "74 Stimmen" sind - bei großzügiger Betrachtung - gerade mal zwei Dutzend als lyrisch eigenständige Dichter ernst zu nehmen. Man braucht viel Geduld, um die wirklich originären Sageweisen und kühnen Artikulationen der jungen Lyrik zu entdecken. Da sind die Wahrnehmungs-Exerzitien eines Nico Bleutge, optische Feineinstellungen als Vorschule eines neuen Sehens; da sind die intensiven, ganz auf das Rätsel der Physis konzentrierten Körperbilder Silke Andrea Schuemmers, da sind die überwältigenden mystischen Schöpfungsgeschichten Christian Lehnerts oder die kalten Stilleben der Liebe von Marion Poschmann. Da trifft die lyrische Mentalitätshistorikerin Sabine Scho, die mit schroffen Montagen die vom Faschismus kontaminierte Sprachlandschaft der Adenauerzeit durchquert, auf den Anti-Idylliker Hauke Hückstädt, einem Spezialisten für die ironische Unterminierung von Genrebildern und Alltagsszenen. So wird man doch ein wenig entschädigt für die beträchtliche Anzahl lyrischer Totalausfälle, die sich in dieser Bestandsaufnahme des lyrischen Jetzt-Zustands eingefunden haben.