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Lyrikdebatte
Wie relevant ist Lyrikkritik?

Befindet sich die Lyrikkritik in einem beklagenswertem Zustand? Das findet der Dichter Tristan Marquardt. In der aktuellen Debatte um Literaturkritik und Lyrik spielt nach Einschätzung unseres Autors vor allem eines die Hauptrolle: die Unsicherheit über das, was Kritik ist und sein kann. Spannend auch, wo die Kritik eigentlich stattfindet. Und wo nicht.

Von Guido Graf | 26.04.2016
    Gebrauchte Bücher stehen in Kisten vor einem Antiquariat in Berlin
    Steckt die Lyrikkritik in der Krise? (dpa / picture-alliance / Wolfram Steinberg)
    "Die Lyrikkritik befindet sich in einem beklagenswerten Zustand. Weder kann sie abbilden, was sich in der Lyriklandschaft zurzeit alles tut, noch bewegt sie sich - bis auf einige Ausnahmen - inhaltlich auf ihrem Niveau."
    "Nur dann hat Kritik Sinn und nur dann hat auch Lektüre Sinn, wenn ich mich durch die Lektüre verändere."
    Die Kritik an der Kritik, wie sie der junge Lyriker Tristan Marquardt formuliert, ist groß. Größer jedenfalls als an der Lyrik selbst - und der Anspruch des Leipziger Lyrikers und Kritikers Jan Kuhlbrodt an die Kritik ist hoch. Zurecht. Inzest und Ignoranz oder schlichte Oberflächlichkeit: Das sind in etwa die Koordinaten, mit denen Tristan Marquardt den Resonanzraum gegenwärtiger Dichtung im deutschsprachigen Raum abgesteckt sieht. Marquardt beklagt, dass es keine differenzierte und qualifizierte Literaturkritik gibt, die sich mit gegenwärtiger Lyrik auseinandersetzt. Statt dessen wechseln sich Zufall, Kumpanei und Allgemeinplätze ab. Befeuert wird die inzestuöse Tendenz der - überschaubaren - Lyrikszene durch neue Publikationsorte im Internet. Feindschaften werden ebenso gepflegt wie - mehr noch - die Freundschaften. Überdies ist die Zahl der kompetenten Kritiker, die nicht selbst Lyriker sind, eher gering. Und wenn dann jemand doch mal sich auslässt über gegenwärtige Dichtung - in den Feuilletons, aber auch wie jetzt gerade hier im Büchermarkt, gibt es immer häufig nur den großen Überblick.
    "Solange immer nur in toto über die Lyrik geredet wird, bleibt der fatale Eindruck einer beschaulichen Subgattung bestehen, die schon dankbar zu sein hat, wenn sie überhaupt einmal Aufmerksamkeit bekommt."
    Eine differenzierte Diskussion zu führen, die Raum braucht, ist naturgemäß schwierig. Oft, das zeigt eine durch Tristan Marquardt angestoßene, lebhaft in verschiedenen Online-Magazinen wie Signaturen, Fixpoetry oder Lyrikzeitung geführte Debatte, flüchtet man sich in Meinungen und Wertungen, anstatt auch dritte oder vierte Leserinnen teilhaben zu lassen. Jan Kuhlbrodt geht noch einen Schritt weiter:
    "Im Prinzip sollte sich ein kritischer Text wesentlich auch darum bemühen, ein Primärtext zu sein, nicht so sehr sich als sekundärer zu verstehen."
    Das erfordert Stil, ein analytisches und kritisches Bewusstsein und umfassende Sachkenntnis - also das, was man Lektüre nennt. Aber selbst, wenn das alles gegeben ist, bleibt das Dilemma. Es gibt in Form von Lesungen, Diskussionen und Festivals eine äußerst lebendige Lyrikszene. Eine sekundäre Öffentlichkeit jedoch, ein Resonanzraum also wird schmerzlich vermisst. Und so dreht man sich im Kreis, Positionen wiederholen sich, variieren nur um Nuancen. Man ist sich aber eigentlich einig, dass es etwa bei einer der zahlreichen Anthologien immer wichtige poetische Positionen gibt, die fehlen, und den Herausgebern wieder nur um Selbstmarketing und Netzwerken gelegen ist. Die Meinung muss man nicht teilen, aber der Verlauf der Debatte bis heute zeigt, dass es im Kern darum geht, welche Relevanz poetisches Sprechen heute für mehr als eine Nische hat.
    "Die Szene wird immer umtriebiger, die Anzahl an Veranstaltungen und ihr Publikum wachsen beständig, reihenweise gute Gedichte werden veröffentlicht. Diese seit Längerem anhaltende Entwicklung hat jedoch noch viel zu wenig auf den Bereich der Kritik übergegriffen. Aktuell kann sie weder quantitativ noch qualitativ mit der Lyrikproduktion mithalten."
    Interessant ist eben auch, wo diese aktuelle Debatte ausgetragen wird und wo nicht. Insbesondere dann, wenn man sie mit der letztjährigen über die Literaturkritik vergleicht, wie sie - auch online - hauptsächlich im Perlentaucher stattgefunden hat. Ob es aktuell um Lyrik geht oder damals um die Literaturkritik im Allgemeinen: Die Unsicherheit über das, was Kritik ist und vor allem sein kann, spielt - allerdings meist unausgesprochen - die Hauptrolle. Diesem blinden Fleck will man sich nicht immer stellen müssen und gibt sich auch mit Ad-hoc-Definitionen zufrieden, die eigentlich eher Meinungen sind. Lieber werden Erfahrungen aus der Literaturbetriebspraxis ausgetauscht, die als tendenziell immer korrupt verdächtigt wird. Die Perlentaucher-Debatte hat mit "Tell-Review" immerhin ein weiteres Online-Magazin hervorgebracht, das sich der Literaturkritik aus der Perspektive einiger Blogger widmet. Von der aktuellen Debatte um die Lyrikkritik ist da allerdings nichts zu sehen. Dabei hätte es vor einigen Tagen durchaus schon mal Gelegenheit gegeben, als Bertram Reinecke schon in seinem, im übrigen gründlichsten Beitrag zur Debatte bislang und dann eben auch bei Tell die prinzipiellen Reflexionsversuche Sieglinde Geisels zur Literaturkritik kommentierte. Reinecke hat das zwar nicht eingefordert, doch einer aufmerksamen und nicht nur auf den eigenen Vorgarten achtenden Perspektive hätte sich hier eine Tür öffnen können.
    Signaturen, Fixpoetry, Lyrikzeitung und immer wieder Facebook: Das sind die Orte, an denen debattiert wird. In den Feuilletons der Tageszeitungen, auf deren Online-Plattformen oder im Radio dazu kein Wort. Auch eine kundige Lyrik-Leserin wie Marie-Luise Knott verliert in ihrer Online-Kolumne beim Perlentaucher kein Wort über die aktuelle Debatte. Berührungslos ziehen die Dichter und ihre wechselseitigen Selbstbeobachtungen ihre Kreise.
    Jan Kuhlbrodt sagt, es gibt unglaublich viel Lyrikkritik. Allerdings vor allem im Internet und in Literaturzeitschriften. Aber eben nicht in den Feuilletons, in Radio oder gar Fernsehen. So richtig schlimm muss man das nicht finden. Um für Relevanz zu sorgen, könnte man auch mal anfangen, die Nischengrenzen zu verschieben.