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Lyriker Becker
"Ich arbeite sehr visuell"

Die Verleihung des Georg-Büchner-Preises an Jürgen Becker bedeute für ihn, dass er sich nun "kanonisiert fühlen muss". Zwar freue er sich über die Anerkennung - doch beim Beschreiben leerer Seiten helfe einem Autor kein Preis. Insofern ändere sich nichts, sagte Becker im DLF.

Jürgen Becker im Gespräch mit Denis Scheck | 30.05.2014
    Der grauhaarige Schriftsteller Jürgen Becker posiert vor seinem Fackwerkhaus in Odenthal (Nordrhein-Westfalen).
    Der Schriftsteller Jürgen Becker posiert vor seinem Haus in Odenthal (Nordrhein-Westfalen). (picture alliance / dpa /Marius Becker)
    Denis Scheck: Schön und bedeutend ist der Georg-Büchner-Preis, den die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung verleiht. Heute Morgen hat die Akademie mitgeteilt, dass der wichtigste deutsche Literaturpreis in diesem Jahr am 25. Oktober an den Lyriker und Prosaautor Jürgen Becker verliehen wird. Die Nachrichten haben es vermeldet. Darüber ein Gespräch mit dem Preisträger in dieser Sendung.
    Jürgen Beckers Gedichte lebten aus einer sensiblen, sinnlichen, neugierigen Weltzugewandtheit und einer vollendeten, dabei ganz unaufdringlichen Sprachkunst, so die Jury der Darmstädter Akademie zur Begründung ihrer Entscheidung heute. Am Telefon verbunden bin ich nun mit Jürgen Becker an seinem Wohnort in der Eifel, in Odenthal bei Köln. Zunächst einmal herzlichen Glückwunsch, Herr Becker. Wie hat Sie die Nachricht erreicht und wie haben Sie darauf reagiert?
    Jürgen Becker: Erreicht hat mich die Nachricht vorgestern in Odenthal, das nicht in der Eifel, sondern im Bergischen Land liegt, erlauben Sie mir die Korrektur...
    Scheck: So viel müssten eigentlich Ihre Leser wissen, da haben Sie vollkommen recht, ja – das war ein Malheur von mir, Pardon!
    Becker: Nein, es wird oft verwechselt, ich werde oft in die Eifel platziert, ich weiß auch nicht, warum. Aber Odenthal liegt eben im Bergischen Land, östlich von Köln. Und da rief vorgestern Abend der Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an, Heinrich Detering, und machte mich sprachlos, denn ich hatte das nicht erwartet, und ich hatte nicht da gesessen, wann kommt nun der Büchner-Preis oder so – nein, ich war völlig überrascht und zunächst einfach mal sprachlos.
    Scheck: Dieser Preis, der Büchner-Preis, gilt ja als der wichtigste, der renommierteste aller Literaturpreise, weil er eine Kanonisierung zu Lebzeiten sichert. Welche Bedeutung hat denn der Büchner-Preis für Sie, Jürgen Becker?
    Will nicht kanonisiert werden
    Becker: Ja, dass ich mich jetzt kanonisiert fühlen muss. Aber ich glaube, ich kann diese Rolle nicht annehmen, denn ich habe es, glaube ich, hinbekommen, dass ich nie gewartet habe, nie gehofft habe, dass jetzt Preise kommen. Man freut sich über jede Anerkennung, das ist klar, aber es ist für jeden Schriftsteller gefährlich, wenn er darauf wartet, dass nun auch die großen Preise kommen. Denn – wie oft kommen sie nicht, und man schreibt trotzdem weiter, und das ist ja das Entscheidende, dass zwar eine Anerkennung im Rücken, aber doch – was hat man vor sich? Da fängt jeder Tag immer wieder mit einer neuen leeren Seite an, und die will beschrieben werden, und da hilft einem nichts, kein Preis, gar nichts, da hilft einem nur so die eigene Imagination und der Einfall, wenn er kommt. Und insofern ändert sich nichts, es geht so weiter, es muss so weiter gehen, immer erst nah am Heu bleiben und dann versuchen, weiter zu kommen.
    Scheck: Vor genau 60 Jahren hat Ihr Kollege Gottfried Benn seinen berühmten Vortrag "Altern als Problem für Künstler" gehalten. Wie erfährt denn der 81-jährige Jürgen Becker das Altern.
    Becker: Als Problem für Künstler oder als Problem, ja – natürlich kenne ich die Probleme des Alters, wo ich so sehr aus der Erinnerung arbeite. Ich vergesse plötzlich mehr, als mir lieb ist, und ich bin ein bisschen kurzatmig geworden. Nein, mir geht es gut. Und ich weiß, dass im Alter – da konzentriert sich etwas, was vorher alles so ein wenig verlaufen ist. Die Assoziationen werden dichter, und die Erinnerung wird präziser, sie konzentriert sich. Und man ist nicht mehr ganz so offen, ich verfolge das literarische Geschehen nicht mehr so mit der Intensität, die ich schon aus beruflichen Gründen, als ich noch Kollege im Deutschlandfunk, als ich noch Redakteur war, was damals mein Job war, das ist zurückgegangen, aber – das könnte ein langes Gespräch werden über das Altern, aber im Moment empfinde ich es überhaupt nicht als problematisch, im Gegenteil, es ist doch ganz schön, wenn man so alt wird, und kriegt dann noch einen Büchner-Preis.
    Scheck: Stichwort Kollegialität – Sie waren Hörspielchef im Deutschlandfunk. Eines Ihrer Gedichte trägt den Titel "Sendezeit" und beginnt mit den Versen "Nachmittags ein Kommentar, aber abends ziehen Sterne über den Bildschirm, die rascher entstanden sind als die Spur der Gedanken". Welche Rolle hat denn Ihre Arbeit fürs Radio für Ihre Dichtung gespielt?
    Selbstgespräche im Medium Radio
    Becker: Ja, das Radio war immer das Medium, was mir das nächste war. Ganz einfach auch diese Situation im Studio. Im Studio alleine sitzen, vor sich ein Mikrofon haben und etwas sprechen. Das war oft eine vergleichbare Erfahrung, wie wenn man zu Hause sitzt, am Schreibtisch, und schreibt vor sich hin, man führt ein Selbstgespräch. Und die Radioarbeit, man spricht etwas ins Offene, man weiß nicht, wo es hingeht. Man weiß, es gibt Zuschauer, aber man kennt sie nicht, also spricht man zunächst für sich selbst. Und da ich nun auch ein Mensch bin, der nicht nur mit den Augen vor allen Dingen arbeitet, sondern auch mit den Ohren, für mich hat dieser akustische Bereich, Radio, Hörspiel für mein Schreiben natürlich immer eine wichtige Rolle gespielt, ganz unabhängig von der Frage auch, dass das Radio für mich, den Schriftsteller, die Möglichkeit gegeben hat, meine Existenz, eine literarische Existenz zu führen. Und das war zwar oft ein Doppelleben, als Redakteur hier und als Autor zu Hause am Schreibtisch, aber es ging ja. Und die Frage ist dabei sehr wichtig geblieben, und fürs Radio zu schreiben war immer eine ganz bestimmte Herausforderung, für ein Medium zu arbeiten, in dem man doch sehr reduziert vorgeht, indem man ja nur für die Ohren schreibt.
    Scheck: Ich komme mal von den Ohren zu den Augen. 1971 haben Sie das Fotobuch "Eine Zeit ohne Wörter" veröffentlicht. Gerade ist ein Bildband mit Ihren Fotografien eines New-York-Aufenthalts von 1972 erschienen, Ihr Sohn Boris Becker ist inzwischen ja ein berühmter Fotograf, ihre Frau Rango Bohne eine bekannte Malerin. Mit ihr haben Sie immer wieder zusammengearbeitet. Ich erwähne diese Nähe zur visuellen Kunst, weil mich die Frage interessiert, ist Schreiben für Jürgen Becker eine Beobachtungskunst? Heißt denn schreiben lernen beobachten lernen, genau hinsehen lernen?
    Becker: Ja, wenn es das Beobachten alleine wäre – aber es ist – ich arbeite sehr visuell, mit den Augen nehme ich sehr viel wahr an Wirklichkeit, die mich umgibt, und es ist zugleich auch eine bestimmte Art, eine ästhetische Verhaltensweise der Wirklichkeit gegenüber, die visuelle Wahrnehmung, und die ist natürlich bei mir mitbestimmt durch Beschäftigung mit Malerei oder eben auch durch die aktive Tätigkeit, wenn ich fotografiert habe. Einerseits das Wahrnehmen so in der Totale und dann das Beobachten auf den Punkt hin. Daraus aber jetzt etwas zu machen, das in Sprache zu übersetzen, das ist dann der Reiz. Die visuelle Erfahrung sprachlich zu vermitteln.
    Scheck: Sie haben ja als, wenn man das sagen darf, ziemlich radikaler Avantgardist begonnen. Sie standen der Fluxus-Bewegung nahe. Wie würden Sie den Wandel Ihrer Ästhetik bis heute beschreiben. Ist Ihnen Geschichte, das Aufbewahren von Erinnerungen mit fortschreitender Lebenszeit wichtiger geworden?
    Erinnerung als ein Motiv des Schreibens
    Becker: Ja, das ganz sicher. Erinnerung hat zwar immer eine Rolle gespielt, Erinnerung war immer so ein Motiv des Schreibens für mich, und die Beschäftigung mit diesen Künsten seinerzeit in den 60er-Jahren, das war so eine bestimmte Phase, als es mich interessierte, wie gehen die Künste ineinander, was ist das für ein Zusammenhang, für ein intermedialer Zusammenhang zwischen den Künsten. Ich hab mich davon wieder abgewendet. Ich hatte auch das Gefühl, in eine Sackgasse zu geraten, und ich habe mich ja dann auch wieder ganz konventionellen Formen zugewendet, also dem Roman oder dem Gedicht, nachdem ich vorher versucht hatte, diese Gattungen alle einzuschmelzen. Diesen ganzen Entwicklungsvorgang jetzt im Einzelnen zu beschreiben, so viel Sendezeit haben wir nicht, aber ich kann es nur jetzt so andeuten, dass es also immer wieder Phasen gegeben hat der Veränderung, der Entwicklung, des Neuanfangs. Für mich war immer wichtig, wenn ich eine Methode gefunden hatte, die Methode sehr schnell wieder zu verlassen und nicht einfach da auf dem Pfad weiterzugehen, den ich entdeckt hatte, sondern einfach wieder was Neues zu versuchen.
    Scheck: Nun ist diese Auszeichnung mit dem Büchner-Preis sicher die Gelegenheit für viele Menschen, Ihr Werk vielleicht zum ersten Mal kennenzulernen. Ich gestehe, ich hab ja ein Lieblingsbuch von Ihnen, den Gedichtband "Foxtrott im Erfurter Stadion". Welches Buch würden Sie neuen Lesern von Jürgen Becker zum Einstieg in Ihr Werk empfehlen wollen?
    Becker: Das kann ich nicht. Es gibt kein Einstiegsbuch, denn ich verweise immer gern auf meinen Roman "Aus der Geschichte der Trennungen, weil der sehr viel von Geschichte erzählt, also nicht nur meine persönlich, sondern auch von dieser deutsch-deutschen Geschichte. Und für mich war das Buch sehr wichtig, weil ich etwas machte, was ich eigentlich nie vorhatte zu versuchen, nämlich einen Roman zu schreiben. Und das genaue Gegenstück dazu, das ist ein Buch, das vor ein paar Jahren erschienen ist, "Im Radio das Meer", das ist ein dickes Buch, das besteht nur aus einzelnen Sätzen. Und das ist nun wirklich zweierlei, ein breiter Roman und dann die Form des minimalisierten Schreibens, nur noch in einzelnen Sätzen sich zu äußern. Aber der Leser muss wissen, was ihn interessiert, was seiner eigenen Erfahrung am nächsten kommt. Und da kann ich als Autor nicht viel zu sagen. Im Augenblick sitze ich an meinem neuen Buch, das so vermittelt, eine Art Journalroman, wo diese Form ich versuche weiterzuführen, so zwischen Augenblick und Erinnerung hin und her mich bewegend.
    Das neue Buch: eine Art Journalroman
    Scheck: Das klingt spannend. Wann glauben Sie, die Arbeit daran abgeschlossen zu haben? Wann können wir Jürgen-Becker-Leser damit rechnen?
    Becker: Der Verlag drängt natürlich jetzt schon. Ich hab gesagt, ich brauche Zeit, aber ich will doch dieses Jahr damit fertig werden, sodass im nächsten Jahr das Buch vielleicht erscheinen wird.
    Scheck: Herzlichen Dank, Jürgen Becker, für dieses Gespräch, und herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung mit dem Georg-Büchner-Preis. Feiern Sie schön – heute ist ein Tag, an dem Radiomachen Spaß macht.
    Becker: Dankeschön, Denis Scheck!
    Scheck: Das Werk von Jürgen Becker liegt im Suhrkamp-Verlag vor. Zuletzt von ihm erschienen ist dort der Band "Wie es weiterging. Ein Durchgang von Jürgen Becker aus fünf Jahrzehnten".
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.