Dienstag, 19. März 2024

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Lyrikerin Ellen Hinsey
Nachdenken über die Tyrannei

Ellen Hinsey glaubt an die subversive Kraft der Poesie und widmet sich in ihrem Gedichtband "Des Menschen Element" mit frischer und unerwarteter Metaphorik den Abgründen menschlichen Tuns. Die um Demokratie und Frieden besorgte US-Amerikanerin vertraut dabei auf die Kraft des dichterischen Wortes.

Von Brigitte van Kann | 20.07.2017
    Buchcover Ellen Hinsey: Des Menschen Elemet u. Dubrovnik 1991
    Ellen Hinseys Werk kreist immer wieder um die universale Frage, warum Menschen einander Schreckliches zufügen. (Matthes & Seitz Berlin / AFP / Peter Northall)
    Ellen Hinsey, 1960 in den USA geboren, lebt seit vielen Jahren in Paris. Von dort aus nimmt die in englischer Sprache schreibende Dichterin die Katastrophen des 20. und 21. Jahrhunderts, vornehmlich die europäischen, in den Blick. Angesichts von totalitärer Gewalt und Verbrechen gegen die Menschlichkeit kreist ihr Werk immer wieder um die universale Frage, warum Menschen einander so Schreckliches zufügen. Es ist im Grunde Georg Büchners Frage "Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet?", die Ellen Hinsey umtreibt.

    Den Ursprung der Gewalt sieht die Dichterin in der Abgrenzung des Ichs vom Anderen, der Abgrenzung eines Volkstammes vom anderen. In ihrem Gedicht "Über Orte und das Gebiet des Anderen" heißt es unter der Überschrift "Unbequeme These": "Der Stamm an sich ist nicht heilig." Und unter der Überschrift "Grundlegende, aber gefährliche Gegebenheit" lesen wir: "Weil der Stamm den Ort nicht endgültig besitzen kann, muss er sich aus zufälligen Erdumständen einen Mythos vom Heimatland spinnen."
    "Tyrannen mögen Dichter nicht"
    Ellen Hinsey denkt über das Wesen der Tyrannei nach und schreibt ihr, als wäre sie eine Person, eine Biografie zu: von der "unbeholfenen Jugend voll heißer Luft" bis zum "unwürdigen Ende" als "Schrotthaufen von Versprechungen" - um sich am Ende zu fragen, "warum immer wieder Blumen auf ihrem Grab zu finden sind".
    Auf einer Lesung im Münchner Lyrik-Kabinett erinnerte die Dichterin an die Bedeutung der Poesie unter totalitären Bedingungen, sie bezog sich auf Anna Achmatovas Gedicht "Requiem", das nur überlebte, weil Menschen es auswendig lernten. Wie die russischen Dichter unter dem Sowjetregime glaubt Ellen Hinsey auf eine heute fast altmodisch anmutende - und zugleich wieder avantgardistische - Weise an die subversive Kraft der Poesie:
    "Tyrannen mögen Dichter nicht. Es heißt immer: Niemand liest Gedichte! Wenn niemand Gedichte liest, warum ist es dann so gefährlich? Es heißt: Gedichte verkaufen sich nicht. Das kann man auch positiv sehen: Dichtung ist nicht käuflich! Gedichte sind immer eine Zone der Bewusstwerdung, eine Zone für Rebellion gewesen - Gedichte schreiben war immer gefährlich."
    Häufig versieht Ellen Hinsey ihre in einen Satz gefassten Thesen oder Gedankensplitter mit Überschriften wie Definition oder Klarstellung, die eher an wissenschaftliche Abhandlungen als an Gedichte denken lassen. Nichts erinnert hier mehr an ein klassisches Gedicht. An die Stelle von Reim und Rhythmus tritt eine akribische Gliederung unter Einsatz von kursiv und fett gesetzter Schrift, von römischen und lateinischen Ziffern, von Buchstaben und geschweiften Klammern - bis hinunter zum einzelnen Satz. Erstaunlicherweise erzeugt diese Wissenschafts-Mimikry eine enorme formale wie inhaltliche Kompression. Den Gedanken dieser dichterischen Prosa verleiht sie etwas Zwingendes.
    Mission ohne fruchtlose Appelle
    Oft verbinden sich Überschrift und Gedanke zu einem Miniatur-Gedicht. Etwa wenn wir unter "Unerreichbares Ideal" lesen: "Vollkommene Wachheit, wie der am Mittag stets sichtbare Mond." In ihrer eigenwilligen Gedankenpoesie reflektiert Ellen Hinsey auch das eigene Tun, etwa wenn sie die "Heimkehr der Metapher" ankündigt, um "zu versöhnen, was willkürlich zerbrochen und in den Verstand verbannt war".
    Für die Dichterin schießen in der Metapher das Gleiche und das Verschiedene zu einem "eigenen, Heiligen Namen" zusammen. Das archaisch hohe Amt des Dichters zu heilen, das Zerbrochene zusammenzufügen - Ellen Hinsey belebt es neu. Sie erklärt, "entlang der Fugen zu horchen - auf all das, was sich überraschend fügt." In einem Interview bezeichnete sie die Poesie als "die Kunstform, die sich dem menschlichen Willen am wenigsten unterwirft". Das Horchen an der Fugen der Welt hat sich gelohnt: Ellen Hinseys Metaphorik ist ebenso reich wie frisch und unerwartet. Hier entfaltet sich ihre ganze dichterische Kraft.
    In den Jahren 2002 bis 2005 war Ellen Hinsey Prozess-Beobachterin in Den Haag, wo Opfer und Täter des blutigen Zerfalls Jugoslawiens vor dem Internationalen Strafgerichtshof standen. Ihr Gedicht "Zeugnis über das, was wichtig ist" referiert geradezu dokumentarisch und bar jeder Metapher eine Szene vor Gericht. Sichtbar wird die tiefe Kluft zwischen einem Menschen, der Folter erlitten hat, und denen, die seine Aussage mit formaljuristischer Distanz aufnehmen. Das Gericht ermahnt den Zeugen mehrfach, er solle bei den Fakten bleiben. Während es für das Opfer wichtig ist, dass es seinen Folterer persönlich kannte und auf die Frage, ob er wisse, was er tue, keine Antwort erhielt. Mit dem Beharren des Zeugen: "Ich muss das sagen: Es ist das, was wichtig ist.", schließt das Gedicht.
    So klingt der Schluss des Gedichts "Zeugnis über das, was wichtig ist", gelesen von Ellen Hinsey im Münchner Lyrik Kabinett.
    Ellen Hinsey ist eine politische Dichterin, die um Demokratie und Frieden besorgt ist. Sie versieht ihre Mission ohne Moralin und fruchtlose Appelle, ganz im Vertrauen auf die Kraft des dichterischen Wortes. Die Welt wäre wohl in einem besseren Zustand, wenn viele Menschen ihre Gedichte läsen.
    Ellen Hinsey: "Des Menschen Element". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Uta Gosmann sowie mit einem Nachwort von Robert Chandler. Bd. 29 der Reihe "Spurensicherung" des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Matthes & Seitz, Berlin 2017. 156 Seiten, 26 Euro.