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Lyrischer Weltklang

Beim Poesiefestival war in diesem Jahr vor allem eine junge Generation von Dichtern zu erleben, die Lyrik als politischen Akt versteht. So griff unter anderem das Festival-Projekt renshi.eu die Frage nach Politik, Markt und Solidarität auf.

Von Cornelius Wüllenkemper | 10.06.2012
    Vor der Projektion einer Jesusfigur in Gestalt des Hindu-Gottes Shiva tanzend trägt die spanische Stimmkünstlerin und Gesangspoetin Fatima Miranda den Göttern ihre "Gebete und Fragen" vor: In ihrem Programm "perVersions" greift sie klassische und popkulturelle musikalische Evergreens auf, verdichtet sie künstlerisch und entfremdet sie mit beeindruckender, singender, sprechender und schreiender Stimmgewalt.

    Abseits des poetisch-musikalischen Programms des diesjährigen Berliner Festivals standen Themen im Vordergrund, die in Dichterkreisen, wenn überhaupt, bisher gern als zweitrangig betrachtet wurden und mit denen der deutsche Moralpoet Günter Grass erst unlängst für Entrüstung und für Spott gesorgt hatte: unverhüllte politische, gesellschaftliche oder religiöse Gegenwartsfragen. Das Festival-Projekt renshi.eu griff die griechische Krise der EU, die Frage nach Politik, Markt und Solidarität auf. Dichter aus den 27 EU-Mitgliedsstaaten und dem assoziierten Kroatien hatten in Form des Renshi, eines japanischen Kettengedichts, Bilder von Europa versprachlicht.

    Die 1980 in Litauen geborene Lyrikerin Gabrielė Labanauskaitė verglich in ihrem Renshi-Beitrag die europäischen Regierungschefs mit Vätern, die Wirtschaft mit Müttern, die Börsenkurse mit Schwestern, das Kapital mit Brüdern und die Presse mit Cousins. Am Ende kam Labanauskaitė zum ernüchternden Schluss, dass sie selbst schon lange Waise sei.

    Sehr politisch ging es naturgemäß auch beim Syrientag des Festivals zu. Der syrische Aktivist und Filmemacher Amer Matar, der bereits im Alter von 25 Jahren Erfahrungen mit der Folterpraxis in syrischen Gefängnissen machte, berichtete in einem der Diskussions-Panels, dass die Revolution die künstlerische Produktion enorm inspiriert habe. Gerade Lyrik in Liedform spiele eine wichtige Rolle bei Straßenprotesten und unter Gefängnisinsassen. Dabei war beim Festival die syrische Realität auch ganz hautnah zu erleben. Der seit Monaten eingeladene 25-jährige syrische Dichter und Aktivist Omar Soliman musste seine Gedichte beim Festival vortragen lassen, weil er selbst zunächst nicht ausreisen konnte, schließlich aus Syrien floh und sich nun in Paris um die Anerkennung als Flüchtling bemüht.

    "Der syrische Flüchtling

    Fremd zu sein und zwischen aufgeschlagene Zelten und Bäumen umherzuziehen, schert ihn nicht,
    auch Nachrichtenagenturen und die Polizei scheren ihn nicht, diesen Jungen. Was ihn kümmert ist der grüne Zweig. Er pflanzt ihn ein, damit die Freiheit an ihm blüht. Damit jeder, der vorbeikommt, weiß: Hier gab es ein Kind … und Belagerung."

    Auch sonst hatte das Festival viel Politisches zu bieten: Im gut besuchten Panel über die problematische Übersetzung des Korans ins Deutsche sorgte "Gottes unverfälschtes Wort" und die Frage, wieso Gott eigentlich arabisch spreche, für heiße Debatten. Selbst bei der eigentlich spielerisch-unterhaltend programmierten Poet’s Corner, bei der Autoren an öffentlichen Orten in Berlin ihre Werke vortrugen, dichtet der deutsche Lyriker Hendrick Jackson in "Das Ende des falschen Propheten" über den Tod von Osama Bin Ladin:

    "Jemand liebt den Tod mehr als die Freiheit
    Ein anderer liebt die Freiheit mehr als den Tod
    Ein Dritter liebt Freiheit und Tod,
    kann sich aber unter beidem nichts vorstellen ..."

    Beim Poesiefestival war in diesem Jahr vor allem eine junge Generation von Dichtern zu erleben, die, wie es die Britin Jen Hadfield ausdrückte, Lyrik weniger als programmfreie Sprachästhetik versteht, denn als politischen Akt, als die freieste und individuellste Ausdrucksform der persönlichen Weltwahrnehmung. So erklärten sich auch die Organisatoren der Literaturwerkstatt die durchweg große Resonanz beim Publikum damit, dass Lyrik – wie zuletzt bei Günter Grass - heute vor allem dann für Aufsehen sorgt, wenn es um die unmittelbare sprachliche Übersetzung der Weltgegenwart geht.