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Machtanspruch des IS
Ein Kalifat, das keines ist

Die Ehrfurcht vieler Muslime vor dem Mythos des Kalifats ist groß. Auch die Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) beruft sich darauf und rief im Sommer 2014 das Kalifat aus. Der IS betont, das Kalifat sei auf Mohammed zurückzuführen. Doch das stimmt nicht.

Von Hüseyin Topel | 08.03.2016
    Gläubige beten in der Al-Noori Al-Kabir-Moschee, neben Flagge des sogenannten Islamischen Staates (IS)
    Gläubige beten in der Al-Noori Al-Kabir-Moschee, neben Flagge des sogenannten Islamischen Staates (IS) (picture-alliance / dpa/EPA )
    Wenn Muslime heute dem Aufruf der IS-Terroristen folgen, um in deren Kalifat zu leben, dann liegt dem ein Denkfehler zugrunde. Sagt Mohammad Gharaibeh. Der Islamwissenschaftler von der Universität Bonn führt das darauf zurück, dass viele Muslime zu wenig über die Geschichte ihrer eigenen Religion wissen.
    "Das Problem ist, dass Muslime heute religiös relativ schlecht ausgebildet sind. Es gibt keine gute religiöse Bildung oder Allgemeinbildung unter den Gläubigen, die auch die historischen Entwicklungen mit berücksichtigt."
    Mohammad Gharaibeh verweist darauf, dass zu Lebzeiten Mohammeds noch nicht vom Kalifat die Rede sei. Als er im Jahr 632 starb, suchten die Muslime jemanden, der seine religiöse Autorität symbolisch übernehmen sollte – sozusagen einen Stellvertreter Mohammeds auf Erden, einen moralisch-religiösen Ersatz.
    "Die junge muslimische Gemeinde nach dem Tod des Propheten hat sich schnell auf einen Nachfolger einigen können, und zwar auf den Bekannten des Propheten, Abu Bakr."
    Konflikte mit der alten politischen Elite in Mekka
    Diesem ersten Stellvertreter folgten noch drei weitere, die ebenfalls enge Vertraute des Propheten waren. Sie wurden Kalifen genannt. Der Begriff, der in dieser Zeit erstmals benutzt wird, kommt vom arabischen Khalifa und bedeutet Nachfolger. Doch schon bald kam es zu Konflikten mit der alten politischen Elite in Mekka, einst Gegner Mohammeds. Obwohl diese einflussreichen Familien, die Umayyaden, sich inzwischen auch zum Islam bekannten, versuchten sie die vier Kalifen aus dem Umfeld Mohammeds zu vertreiben, um das Kalifat für sich zu beanspruchen. Was ihnen schließlich auch gelang.
    "Nach diesen vier Nachfolgern entwickelte sich dann die Umayyaden-Herrscherdynastie, die dann für sich die Nachfolge des Propheten beanspruchte, aber dann sehr deutlich auch eine politische Herrschaft ausgeübt hat."
    Anders als bei den ersten vier Kalifen wurden nun die religiöse Autorität und die politische Autorität voneinander getrennt. Die geistliche Führung überließ man jetzt den Gelehrten, während die politische Macht mit dem Kalifat verbunden wurde.
    "Sie nutzten den Begriff Kalif, um ihre Herrschaft zu legitimieren. Und der Begriff des Kalifen erfuhr eine Bedeutungserweiterung, nämlich in dem Sinne, dass es nun ein politischer Herrscher sein sollte."
    Die lokale Elite integrieren
    Um ihren Herrschaftsbereich zu vergrößern, eroberten die Umayyaden nun auch Gebiete in Nordafrika und bis ins Persische Reich hinein und führten überall den Islam ein.
    "Das Herrschaftsgebiet der Umayyaden war sehr groß. Man spricht hier von einem Herrschaftsgebiet, das sowohl im Westen Spanien, Nordafrika, Ägypten umfasste, aber auch Syrien und dann Irak und Iran. Diese Herrschaft konnte auch nur aufrechterhalten werden, indem man die lokale Elite mit in die Herrschaft integriert."
    Doch durch die Eroberungen hatte man nicht nur neue Länder hinzugewonnen, sondern es kamen nun weitere Rivalen im Kampf um die politische Macht hinzu. Bei diesen Machtkämpfen setzte sich dann die Dynastie der Abbasiden durch, die die Umayyaden im Jahr 750 ablösten.
    "Offiziell geht das abbasidische Kalifat bis 1258 in Bagdad. Das wurde durch den Mongolensturm zunächst unterbrochen. Dann wurde es wieder reinstalliert, aber relativ schnell, und zwar ab 978 hatte das abbasidische Kalifat nur noch symbolische Bedeutung. Dann nämlich, als turkstämmige Herrschaftsverbände Bagdad einnahmen und als Sultane die tatsächliche Herrschaft hatten."
    Einheit aller Muslime?
    Jetzt war der osmanische Sultan auch gleichzeitig der Kalif. Mit dem Untergang des Osmanischen Reiches im Jahre 1924 wurde dann auch das Kalifat aufgelöst. Aber es gab in der arabischen Welt immer wieder Bestrebungen, das Amt des Kalifen wieder einzuführen. Dazu Mohammad Gharaibeh von der Universität Bonn:
    "Zum Beispiel gab es in Ägypten und in Syrien neue islamische Reformbewegungen, die darauf abzielten eine Einheit aller Muslime herzustellen. Dieser Versuch fußt auf die Erfahrung mit den Kolonialmächten, mit einer sehr negativen Erfahrung. Ihr Ziel war es zunächst einmal, an die allgemeine Religiosität des Volkes anzuknüpfen, um eine übergeordnete Identität der Muslime herzustellen."
    Auch heute gibt es Strömungen in der islamischen Welt, die die politische Herrschaft des Kalifats wieder einführen wollen. Sie möchten so alle Muslime weltweit in einem Herrschaftsgebiet vereinen.
    "Das heißt, wenn Muslime heute, oder Reformbewegungen heute, zu einem Kalifat aufrufen, sprechen sie damit in erster Linie nur die emotionale Ebene von den Muslimen an, suggerieren, dass es so eine Einheit gegeben hat und zu der man zurück müsste."
    Man kann sich kaum auf Mohammed berufen
    Und immer wieder berufen sich diejenigen, die ein Kalifat einführen wollen, darauf, dass sie damit die Tradition Mohammeds fortsetzen würden.
    "Der Status Quo der Kalifen-Dynastien hat eigentlich sehr wenig mit der Praxis des Propheten zu tun. Die Vorstellungen, die man heute hat, die Reformbewegungen oder Extremisten auf das Kalifat projizieren, haben ebenfalls sehr wenig mit der Praxis des Propheten zu tun. Man erfährt sehr wenig darüber, ob der Prophet ein politisches System impliziert hat, was nämlich dann eher zu dem Schluss führt, dass das explizit nicht geschehen ist."
    Demnach können sich Muslime mit der Forderung nach einem politischen Kalifat kaum auf Mohammed berufen. Auch die Vorstellung darüber, wie das Kalifat zu verstehen ist, hat sich in der Geschichte immer wieder verändert. Wenn sich die Terrororganisation Islamischer Staat auf den Propheten beruft, wenn sie ein Kalifat ausruft, dann sollte sie wissen: Es hat es so nie gegeben. Außerdem, davon ist Mohammad Gharaibeh überzeugt: Die verschiedenen Kalifats-Modelle, die sich im Verlauf der vergangenen knapp 1.400 Jahre entwickelt haben, passen nicht mehr in unsere Zeit.
    "Die gesellschaftlichen Verhältnisse haben sich geändert. Die historischen Verhältnisse haben sich geändert. Die politischen Verhältnisse haben sich ganz klar geändert. Wir haben Nationalstaaten. Was der Islamische Staat hier macht, einfach eine Herrschaft auszurufen, ist nicht legitim. Sie wird von anderen Staaten ja gar nicht anerkannt. Und Muslime sind keinem Menschen gehorsam schuldig, der einfach irgendwo das Kalifat für sich beansprucht."