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Machtkampf um Cameron-Nachfolge
"Ein Stich in den Rücken"

Eine Woche nach dem Brexit-Schock ist offen, wer das Vereinigte Königreich aus der EU führen soll. Immerhin: Das Feld bei den Konservativen ist überschaubarer geworden. Fünf Kandidaten bewerben sich für den Parteivorsitz und damit auch für das Amt des scheidenden Premiers. Das "Gesicht" der Brexit-Kampagne ist überraschend nicht mit dabei.

Von Gerwald Herter | 01.07.2016
    Der britische Justizminister Michael Gove bei der Ankunft in Downing Street
    Der britische Justizminister Michael Gove bei der Ankunft in Downing Street ((c) dpa)
    "The total number of votes casted for Leave was 80 thousand. YEAHHHHH!"
    Das Ergebnis aus Sunderland, einer alten Industriestadt im Nordosten Englands, machte viele Briten in der Nacht der Auszählung schlagartig wach: 61 Prozent für den Brexit – deutlich mehr als erwartet. Der Kurs des Pfund Sterling gab sofort nach. Einige Stunden später stand fest, dass eine Mehrheit der Briten für den Austritt gestimmt hatte.
    Der 83-jährige Michael Heseltine, ein echter Elder Statesman, gab seinem Entsetzen aber erst gestern Ausdruck: In der BBC schimpfte er auf Boris Johnson, weil der zwar für den Brexit geworben hatte, aber nicht für den Vorsitz der Partei und das Amt des Premierministers kandidieren wird:
    "Er hat die Partei auseinandergerissen, eine der größten Verfassungskrisen der Moderne ausgelöst, Milliarden Pfund aufs Spiel gesetzt. Er ist wie ein General, der seine Truppen in das Gewehrfeuer führt, um dann das Schlachtfeld zu verlassen. Mit dieser Schande muss er leben."
    Johnson als Schuldiger
    Heseltine macht allein den "General" Boris Johnson für diesen schmählichen Rückzug verantwortlich, er sei jedoch der Aufforderung seines "persönlichen Adjudanten" gefolgt, sagte Heseltine. "Der Adjudant" das ist Justizminister Michael Gove, der an der Seite von Johnson in die Brexit-Kampagne gezogen war, sich aber gestern überraschend von ihm distanzierte. "Ein Stich in den Rücken", wie das Anhänger von Boris Johnson nennen? Nein, sagt Gove. Er habe in den letzten Tagen beobachtet, dass sein Parteifreund einfach nicht in der Lage sei, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Deshalb, so Gove, habe er sich dazu entschließen müssen, selbst zu kandidieren:
    "Die Menschen, die für Leave gestimmt haben, wollen Veränderungen. Hier leben viel zu viele Menschen, die das Gefühl haben, vom wirtschaftlichen Wachstum nicht zu profitieren. Ich will für alle regieren, heilen und vereinen."
    Eine zweite Margret Thatcher?
    Wie Gove gehört Innenministerin Theresa May zu den Favoriten. Sie wurde schon häufig mit Margret Thatcher verglichen und erklärte gestern, dass es kein zweites Referendum geben werde. May hat außerdem keinen Zweifel daran gelassen, dass sie die Zuwanderung kontrollieren will. Und sie weiß genau, wer auch für den Brexit gestimmt hat:
    "Wenn Sie aus einer Arbeiterfamilie kommen, da ist das Leben härter, als sich das viele Politiker vorstellen können. Du hast einen Job, aber keinen sicheren. Du hast ein Zuhause, aber auch Angst vor höheren Hypothekenzinsen. Du kommst gerade so durch. Nicht jeder in Westminister versteht das und einigen muss man sagen, Politik ist doch kein Spiel".
    Viele britische Konservative scheinen erkannt zu haben, dass der alte Deal zwischen Establishment und Arbeiterklasse längst nicht mehr aufgeht. Vor allem im Norden Englands, in Städten wie Sunderland, wird das spürbar.
    Machtkampf auch bei Labour
    Die Labour-Party kann davon nicht profitieren. Wie die Torys befindet auch sie sich in einem offenen Machtkampf, mit dem gravierenden Unterschied, dass ihr Chef Jeremy Corbyn nicht zurückgetreten ist. Viele Labour-Mitglieder, die ihn gewählt haben, unterstützen ihn immer noch, allerdings im Gegensatz zu der großen Mehrheit der Abgeordneten im Parlament. Barry Gardiner gehört dort zur kleinen Gruppe seiner Unterstützer.
    Er hofft darauf, die Labour-Abgeordneten und die Mitglieder wieder versöhnen zu können. Wie das gelingen soll, ist offen.
    Der 83jährige Tory Michael Heseltine war schon Minister unter Thatcher. Die Vorgänge in der eigenen, der konservativen Partei machen ihm genug Sorgen, vor allem der Blick auf die Nachfolge von Cameron.
    Die Entwicklung habe eine große, klaffende Lücke gerissen sagt Heseltine. In der BBC hatte er sich nicht dazu bekannt, einen der fünf Kandidaten zu unterstützen.