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Machtkampf um den Élysée-Palast

Nächstes Jahr sind in Frankreich Präsidentschaftswahlen. Nach dem Sieg der Sozialistischen Partei bei den Senatswahlen herrscht bei Frankreichs Linken Zuversicht. Doch wer gegen Nicolas Sarkozy antreten wird, steht noch nicht fest.

Von Ursula Welter | 04.10.2011
    Bisher hat es nur einer geschafft - Francois Mitterrand. Das war vor 30 Jahren. 1981 verhinderte er die Wiederwahl Giscard d’Estaings und wurde der erste linke Präsident der Fünften Republik. Dabei soll es nicht bleiben. Die Plakate von Mitterrands erfolgreicher Wahlkampagne schmücken noch heute die Wände im Hauptquartier der Sozialistischen Partei Frankreichs. Überhaupt durchzieht das Haus in der vornehmen Rue de Solferino ein spürbarer Hauch von Siegeszuversicht. Der überzeugende Wahlsieg bei den Senatsteilwahlen scheint einen Triumph auch im kommenden Jahr in greifbare Nähe zu rücken. Es geht voraussichtlich gegen Nicolas Sarkozy, den amtierenden Präsidenten, von dem eine Mehrheit der Franzosen sagt, er solle besser nicht mehr antreten. Ihm waren die Sozialisten 2007 noch unterlegen. Im nächsten Frühjahr könnte es anders kommen.

    "Les Primaires": Das ist zurzeit die Zauberformel. Mit dem aus den USA geborgten Verfahren wollen die Sozialisten auf breitester Front mobilisieren. Alle Franzosen, ob mit oder ohne Parteibuch, sind am 9. und 16. Oktober aufgerufen, sich für einen von sechs Kandidaten zu entscheiden.

    Abstimmen darf, wer bis Ende des vergangenen Jahres in den offiziellen Wahllisten Frankreichs registriert war - auch Minderjährige, die zum Tag der Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr Volljährig sein werden, dürfen ihre Stimme abgeben und sogar Nicht-Franzosen, sofern sie Mitglied der Sozialistischen Partei oder der Jugendverbände sind. Ein demokratisches Großunternehmen. Der Zweck ist erreicht, wenn mindestens eine Million Unterschriften geleistet werden. Das ist, so Parteisprecher, Harlem Desir, die symbolische Schwelle.

    Der Aufwand ist beträchtlich. 10.000 Wahllokale werden eingerichtet. Damit die Kosten halbwegs gedeckt sind, wird jeder Wähler am Tag der Abstimmung um einen Euro gebeten und um eine Unterschrift.

    Wer unterschreibt, bestätigt damit, dass er die Werte der Linken, wie auch die Werte der Republik billigt. Das sind die Geschäftsbedingungen für die Urwahl der Sozialisten.

    Hinter der Fassade des alten Palais in der Rue de Solferino führt die prunkvolle Treppe hinauf zum Büro des Ersten Sekretärs der Partei. Hier amtierte bis 2008 Francois Hollande. Er ist der haushohe Favorit im Kandidatenrennen. Hollande hat sein Äußeres markant verändert, randlose Brille, weniger Pfunde. Geändert hat sich auch sein Ansehen. Galt er bisher als farblos, ist er jetzt für viele, nicht zuletzt für ältere Franzosen, der Mann, der Sarkozy schlagen kann. Er könne Frankreich durch Krisen steuern, sagen die Umfragen, durch ökonomische, politische, auch durch militärische Krisen. Die Linke einen, dem Fortschritt zuliebe, das ist die Parole, die Francois Hollande ausgibt.

    Hollande galt stets als Mann der leisen Töne, jeder kenne ihn, heißt es, aber niemand wisse genau, was er wolle. Sein Schwachpunkt ist, folgt man den Umfragen, die Verlässlichkeit seiner Ankündigungen. Da schneidet Martine Aubry besser ab. Die nüchterne, selten lächelnde Tochter des früheren Präsidenten der EU-Kommission, Jacques Delors, war lange die erste Sekretärin der Partei und ist nach Hollande das zweite Schwergewicht der "Primaires". Die Bürgermeisterin von Lille ist die Mutter der 35-Stunden-Woche, die sie als Arbeitsministerin in der Regierung Jospin in den 90er-Jahren durchgesetzt hat. Mehr als Hollande steht sie für die traditionellen Positionen der Sozialistischen Partei. Heute sagt Aubry, die Rechnung, "rechts spart und links spendiert", gehe nicht mehr auf, es sei die konservative Regierung unter Präsident Sarkozy gewesen, die Schulden angehäuft habe, durch Reformen zugunsten der Reichen.

    Beim Verteilen des Schwarzen Peters für die Schuldenpolitik musste sie sich allerdings öffentlich korrigieren lassen. Aubry hatte die Verschuldung der vergangenen Jahre hauptsächlich den rechten Regierungen in die Schuhe geschoben. "Zu simpel, um seriös zu sein", titelte daraufhin selbst die linksliberale Zeitung "Liberation". Tatsache ist, wie kürzlich erst vom Rechnungshof attestiert, dass der aufgehäufte Schuldenberg Frankreichs ein Gemeinschaftswerk ist, an dem rechte wie linke Regierungen gleichermaßen mitgewirkt haben. Programmatisch kommt Martine Aubry im linken Lager gut an. Sie fordert Beschäftigungsprogramme für die Jugend, soziale und ökologische Projekte. Auch in Zukunft müsse jeder mit 60 in Rente gehen dürfen, sagt Aubry, und fordert für Unternehmen, die nicht investieren, höhere Steuern.

    200 Millionen Euro verspricht die Bürgermeisterin von Lille für den Kultursektor, das Geld sei ohne Schwierigkeiten aufzubringen. Die Kultur, das sei nicht nur Verzierung, nicht die Kirsche auf dem Kuchen, sondern zentraler Bestandteil ihrer Politik. Aubry ist, wie ihr Konkurrent Hollande, gegen eine Schuldenbremse mit Verfassungsrang, wie sie in Deutschland bereits umgesetzt ist. Diese Schuldenbremse fordert Nicolas Sarkozy für alle 27 Staaten Europas, im eigenen Land bereits scheitert er daran. Die Opposition macht nicht mit. Obwohl das französische Regelwerk deutlich weniger Biss hätte, als das der Nachbarn jenseits der Rheins. Goldene Regel, regle d’or, nennt die Regierungsmehrheit das Vorhaben. Ihre goldene Regel laute anders, sagt Aubry. Sparen dürfe kein Selbstzweck sein, Wachstum sei ebenso wichtig, der Fall Griechenland zeige das.

    Damit dreht Aubry den Spieß um. Die Regierung will das Thema Schulden in den Mittelpunkt des anstehenden Wahlkampfs stellen, der konservative Premierminister Francois Fillon sagt wieder und wieder, Frankreich habe lange genug über seine Verhältnisse gelebt, Partei-Programme, die den Schuldenabbau nicht ins Zentrum stellten, dürfen nicht ernst genommen werden.

    Frankreichs Schuldenberg hat sich auf mehr als 1.640 Milliarden Euro aufgetürmt. Das Land zahlt dafür mehr Zinsen als es für seine Verteidigung ausgibt. Gleichzeitig lahmt Frankreichs Wirtschaft. Dennoch hat die Regierung ein Programm aufgelegt, mit dem bis zu 12 Milliarden Euro bis Ende 2012 eingespart werden sollen. Ein Signal sollte das sein - nicht zuletzt an die Ratingagenturen, von denen zu befürchten stand, dass sie auch Frankreichs Bonität herunterstufen könnten. Die Banken, die teilweise stark in Griechenland engagiert sind, gelten als angeschlagen, seit Wochen laufen Spekulationen gegen den französischen Finanzsektor.

    Die Krise. Auch Francois Hollande kann dem Thema nicht ausweichen. Gegen die Goldene Regel und die Schuldenbremse in der Verfassung ist auch er, die Politik dürfe sich Handlungsspielräume nicht nehmen lassen, sagt Hollande. Die Schulden seien eine Bürde, ja, und er werde gleich nach den Wahlen einen Plan für einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen. Nach der Wahl!

    Vor der Wahl verspricht Hollande, die 60.000 Lehrerstellen wieder einzurichten, die unter der rechten Regierung gestrichen wurden. Das sei schön und gut, hält ihm Martine Aubry aus der eigenen Partei vor. 60.000 Stellen schaffen und 60.000 Wählerstimmen einsammeln sei aber noch kein bildungspolitisches Konzept. Martine Aubry will einen Fünfjahresplan für Frankreichs Bildungssystem vorlegen. Aber auch hier gilt: Nach der Wahl! Die Hiebe, die in diesem parteiinternen Wahlkampf gesetzt werden, kommen verdeckt. Schließlich ist es, so deutet Francois Hollande an, ein Wettbewerb unter Freunden. Er kenne die Härte des politischen Geschäfts, sagt Hollande, aber was Frankreich jetzt brauche, sei Versöhnung.

    Ist das mehr als Rhetorik? Jedenfalls wird bemerkt, dass ein Etikett, das in diesen Tagen Martine Aubry angeheftet wird, im Hollande-Lager gut ankommt: Martin Aubry, "die Ersatzkandidatin". Provoziert hatte dies einer, der einst als Hoffnungsträger der Sozialisten galt.

    Dominique Strauss-Kahn zurück auf der Bühne Frankreichs. Mehr als eine Schwäche, einen moralischen Fehler räumt der frühere Präsident des Internationalen Währungsfonds ein, vor 13,5 Millionen Zuschauern. Es ist das erste Mal, dass er sich zur Hotelaffäre von New York in Frankreich öffentlich äußert. Zur besten Sendezeit. Die Einschaltquote der sechs Kandidaten zur Urwahl der Sozialisten hatte bei gerade einmal der Hälfte gelegen. Nun also DSK. An diesem Sonntagabend im September beteuert er seine Unschuld, räumt ein, eine Affäre gehabt, nicht aber Gewalt angewandt zu haben und legt dann seiner Parteifreundin, Martin Aubry, ein Ei ins Nest.

    "Ja", er habe als Präsidentschaftskandidat antreten wollen, sagt Strauss-Kahn. Und bestätigt, es habe eine Art Pakt zwischen ihm und seiner "Freundin Martine" gegeben, eine Abmachung nach der nur einer von beiden antreten werde.
    Martine Aubry, die Ersatzkandidatin? Ob sie so aussehe, kontert sie einen Tag später, auf Wahlkampftour in Südfrankreich.

    Tatsächlich war Aubry die letzte, die ihren Hut für das interne Kräftemessen der Sozialisten in den Ring warf. Es war spekuliert worden, ob sie wirklich in die erste Reihe wollte, oder ob sie nicht viel mehr zum Jagen getragen werden musste. Martine Aubry hat den Ruf einer fleißigen Biene. Ihr Wahlkampfteam verzweifelt zuweilen, da sie zu viele Themen auf einmal anspricht, an zu vielen Orten auftaucht, zu wenig Zeichen setzt, während sie dem amtierenden Staatspräsidenten vorwirft, "herumzuwirbeln". Für viele Sozialisten aber verkörpert Aubry die wahre Linke in der Partei.

    Auf Festen der Kommunisten lässt sie sich blicken und brachte damit zuletzt ihren Widersacher Hollande in Argumentationsschwierigkeiten. Der sonst eher besonnen auftretende Hollande reagierte zunehmend empfindlich auf die häufig gestellte Frage, warum er nicht an der traditionellen "Fete de l’Humanité" teilgenommen habe. Schließlich schlage dort das Herz der Linken, sammele sich dort alles, was Nicolas Sarkozy vom Thron stoßen wolle. Er sei zu diesem Fest all die Jahre hingegangen, als erster Parteisekretär der Sozialisten, antwortet Hollande. Aber in diesem Jahr eben nicht, denn er sei Kandidat der Sozialisten. Die Party sei das Symbol der Kommunistischen Partei, er habe sich nichts vorzuwerfen, er sei da schon als 15-Jähriger gewesen, aber diesmal eben nicht.

    An Fragen wie diesen wird sich in der Urwahl der Sozialisten erweisen, wer die größten Chancen hat, der Kandidat mit der breiteren Basis oder die Kandidatin mit den festeren Wurzeln im linken Lager. Drei der Anwärter auf den Posten des sozialistischen Präsidentschaftskandidaten Frankreichs dürfen als Außenseiter gesehen werden. Arnaud Montebourg etwa, der nach den ersten Fernsehauftritten allerdings einen kräftigen Sprung in den Umfragen nach oben gemacht hat. Staatliche Aufsicht für die Banken, Grenzen für die Globalisierung, Egalité – das wünscht Montebourg.

    Geringe Aussichten auf einen vorderen Platz bei den "Primaires" hat Jean-Michel Baylet. Er gehört zur Partei "Radical de Gauche", die keineswegs radikal ist, sondern eher linksliberal und traditionell ein Wahlbündnis mit den Sozialisten eingeht. Baylet hat viele Ämter inne gehabt, auf regionaler wie auf staatlicher Ebene, er teilt die Leidenschaft der Franzosen für Rugby, er ist der bodenständige Typ, wirbt für die Einheit der Linken und setzt sich für Offenheit gegenüber den Wählern ein.

    Der dritte Außenseiter heißt Manuel Valls. Wie alle seine Mitstreiter tourt er durchs Land, wirbt überall und nirgends um Stimmen. Etwa auf Korsika, vor ihm waren Francois Hollande und Martine Aubry schon da.

    Manuel Valls steht für den rechten Rand der Sozialistischen Partei. Er ist für Haushaltssanierung, ein höheres Renteneintrittsalter, ja sogar über eine Schuldenbremse in der Verfassung ließe er mit sich reden, Valls vertritt eine Minderheitsmeinung in der Partei. Sein Vorschlag, eine Mehrwertsteuer für soziale Projekte einzuführen, brachte ihm den Zorn aller seiner Mitstreiter ein – Valls vertrete "rechte" Positionen, hielten sie ihm vor. Valls, Baylet, Montebourg – drei Kandidaten mit geringen Chancen. Etwas mehr, als diese drei, darf sich Ségolene Royal ausrechnen. Royal war 2007 gegen Nicolas Sarkozy ins Rennen gegangen, das Ergebnis ist bekannt.

    Der Wahlsieger, Nicolas Sarkozy, im Mai 2007. Dass Ségolene Royal die verlorene Schlacht noch einmal schlagen kann, diesmal erfolgreich, ist äußerst unwahrscheinlich. Schon im internen Wahlkampf traut man ihr kein gutes Abschneiden zu. Dennoch kämpft sie unermüdlich, gibt pausenlos Pressekonferenzen und findet ihre Ideen gar im konservativen Lager wieder. Präsident Sarkozy will Jugendliche Gewalttäter härter bestrafen und will 30.000 neue Plätze für Frankreichs überfüllte Gefängnisse schaffen. Die Idee sei gut, sagt Royal, denn sie stamme von ihr, Sarkozy habe es fünf Jahre lang bei Ankündigungen gelassen und deshalb gelte: Das Original (Royal) sei besser als die Kopie (Sarkozy).

    Sie könnte das Zünglein an der Waage werden. Denn, wenn keiner der Hauptkonkurrenten im ersten Wahlgang am 9. Oktober die 50 Prozenthürde schafft, kommt es zur Stichwahl am 16.Oktober. Dann wird sich zeigen, in welches Lager die Wähler Royals wechseln. Ségolene Royal wirbt mit ihren lokalen Erfolgen. Sie behauptet, dass sie die Region Poitou-Charentes bei den erneuerbaren Energien nach vorn gebracht habe. Das Thema Strom und Atomkraft spielt bei den "Primaires" eine zunehmende Rolle. Immer häufiger wird in Frankreich die Frage gestellt, wie halten wir es mit der Atomkraft und was halten wir vom Ausstieg der Deutschen? Wenn man feststelle, die Sache sei gefährlich, bleibe man nicht mittendrin, sagt Martine Aubry, sie tendiert zum Ausstieg und damit zur Aufgabe einer klassischen Position der Sozialisten in Frankreich. Francois Hollande dagegen hält daran fest. Er will den Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung allerdings deutlich reduzieren – von 75 auf 50 Prozent bis zum Jahr 2025.

    Unverkennbar ist, dass die Kernenergiedebatte, die die Sozialisten führen, auch eine taktische Zielsetzung hat: Das Liebäugeln mit den Grünen.

    "Sie entscheiden", die französischen Grünen hören das mit großem Interesse, auch sie wollen mitentscheiden, schon jetzt. Sie haben angekündigt, bei den "Primaires" der Sozialisten mitzumachen und ihrem Favoriten zur Mehrheit zu verhelfen. Wer ihr Favorit ist, haben sie nicht gesagt. Die Hand weit ausgestreckt hat Francois Hollande. Er hat seinen Freunden bei den Grünen bereits zugerufen, man müsse zusammenhalten, damit man später gemeinsam regieren könne.

    Gemeinsam regieren. Francois Hollande, der Favorit in den Umfragen, zeigt in allen Debatten der sozialistischen Urwahl, dass er längst über den Tag der parteiinternen Abstimmung hinaus denkt. Er attackiert Nicolas Sarkozy, nicht seine Mitstreiter, die er abgehängt glaubt. Ein paar Unbekannte in Hollandes Rechnung gibt es freilich noch: Nicht nur, dass Sarkozy selbst bis heute nicht offiziell bestätigt hat, dass er sich zur Wiederwahl stellen will. Auch könnte es sein, dass die Meinungsforscher nicht Recht behalten. Oft kam es am Wahlabend in Frankreich anders und eine Statistik lässt besonders aufhorchen: Noch nie hat in Frankreich ein Präsidentschaftskandidat, der im Herbst vor den Wahlen in Umfragen vorne lag, diese dann auch gewonnen. Das galt für Edouard Balladur, für Giscard d’Estaing und für Ségolene Royal. Bis es ans Regieren geht, muss Francois Hollande also noch eine Strecke zurücklegen.