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Madrid bei Nacht

Das Cuarteto Casals ermöglicht auf der achten CD einen spannenden Einblick in das reiche Kammermusikschaffen von Luigi Boccherini. "Die Nachtmusik auf den Straßen von Madrid" ist unter anderen ein Stück, das einen akustischen Spaziergang durch die nächtliche Hauptstadt bietet.

Von Maja Ellmenreich | 11.09.2011
    Seien wir ganz ehrlich: Streichquartette aus Spanien waren lange Zeit weit abgeschlagen. Weder bei internationalen Wettbewerben, noch in den großen Konzerthäusern dieser Welt oder bei den einschlägigen Festivals – keine spanische Streichquartettformation machte von sich hören.

    Die Zeitenwende kam 1997, als vier junge Streicher an der Musikakademie in Madrid gemeinsam Unterricht erhielten und danach fest entschlossen waren, auch über das Studium hinaus zusammen zu musizieren: als Cuarteto Casals. Mittlerweile ist es ganz oben angekommen und hat sich – wohlverdient – einen großen Namen gemacht in der internationalen Kammermusikszene. Vor kurzem ist seine achte CD erschienen: Das um einige Instrumentalisten erweiterte Cuarteto Casals spielt Kammermusik von Luigi Boccherini.

    "II. Allegro maestoso aus Gitarrenquintett D-Dur"

    Das Cuarteto Casals versteht sich auf Programmpolitik mit Köpfchen. Die vier wollen es so machen, wie es die anderen nicht tun. So haben sie etwa einst Debussy nicht mit Ravel kombiniert, sondern mit Zemlinsky. Sie haben sich für den frühen Mozart entschieden und Bartók, Ligeti und Kurtág zusammengebracht. Und immer wieder tauchen spanische Komponisten in ihrer Diskografie auf. Den Anfang machte Arriaga, der spanische Mozart. Mit gerade mal 19 ist er gestorben, hat ein entsprechend kleines Oeuvre hinterlassen und ist deshalb nicht allzu bekannt. Ein paar Jahre später verknüpfte das Cuarteto Casals die beiden spanischen Komponisten Toldrá und Turina. Auch ihre Werke sind weit entfernt vom Standardrepertoire.

    Ist spanische Quartettliteratur also das Markenzeichen der Casals? Auf diese Frage antwortete die Ensemblegeigerin Vera Martínez Mehner einmal in einem Interview mit dem diplomatischen Satz "Bis zu einem gewissen Punkt!" Offensichtlich kommt es den vieren auf die richtige Dosierung an. Sie wollen in der internationalen Spitzenklasse mithalten können, und mit einer spanischen Fixierung wäre das sicher nicht möglich. Deshalb besinnen sie sich in wohlüberlegten Abständen auf ihre spanischen Wurzeln. Und jetzt war die Zeit wieder reif: Nach Arriaga, Toldrá und Turina entschied sich das Cuarteto Casals für den Wahl-Spanier Luigi Boccherini.

    "III. Minuetto – Trio aus Streichquintett E-Dur, op. 11 Nr.5"

    Bekannt wie ein bunter Hund: das Menuett aus Boccherinis E-Dur-Quintett. Doch die Interpretation des erweiterten Cuarteto Casals lässt aufhorchen. Bei den Fünfen klingt das Menuett nicht wie dieselbe alte Leier, sondern frisch und keck, leicht und luftig. Auf dem Pizzicato-Untergrund können die Synkopen regelrecht federn. Und eigentlich reichen diese dreieinhalb Menuett-Minuten schon aus, um die Boccherini-Kompetenz des Cuarteto Casals zu belegen.

    Aber die neue CD aus dem Hause harmonia mundi liefert noch weitere 73 Minuten Beweismaterial: Aus den sage und schreibe 400 Kammermusikwerken des gebürtigen Italieners Boccherini hat das Cuarteto ein Streichquartett, zwei Streichquintette und ein Gitarrenquintett ausgewählt. Dafür wurden drei Gastmusiker benötigt. Besonders prominent: der deutsche Cellist Eckardt Runge, denn dem Cello hat Boccherinis spezielle Aufmerksamkeit gegolten. Schließlich war es sein Instrument. Schon 1756, Boccherini war 13 Jahre alt, debütierte er als Solist mit einem Cellokonzert. Über Mailand, Wien und Paris führte der Weg des Virtuosen und Komponisten schließlich nach Spanien, wo er zwar nicht zu großem Reichtum, aber – wenigsten zu Lebzeiten – zu großem Ruhm gelangte. Die Rahmenbedingungen seiner Anstellungen bestimmten, wie bei so vielen anderen Komponisten auch, die kompositorische Ausbeute.

    Während etwa der spanische Infant Don Luis sein Dienstherr war, begründete Boccherini quasi die Gattung des Streichquintetts: Don Luis verfügte nämlich über ein eigenes Quartett, das durch den Cello spielenden Komponisten zum Quintett ergänzt wurde. Für die ungewöhnliche Besetzung aus zwei Geigen, einer Bratsche und zwei Celli komponierte Boccherini reichlich. Und die beiden tiefen Stimmen kamen dabei alles andere als schlecht weg. Aus ihrer lange Zeit im besten Sinne des Wortes "unterlegenen" Position befreite Luigi Boccherini die Celli. Ganz deutlich zu hören in diesem Andante aus Boccherinis Opus 11 Nr. 5.

    "IV. Andante aus Streichquintett E-Dur, op. 11 Nr.5"

    Dem Brotgeber gewidmet: dem spanischen Infanten Don Luis. Dessen Heiratspläne bestimmten nicht nur das eigene, sondern auch maßgeblich das Leben von Luigi Boccherini. Denn die Tatsache, dass der Infant nicht ebenbürtig geheiratet hatte, zwang ihn dazu, Madrid zu verlassen und in die Provinz zu ziehen. Boccherini folgte und wählte damit zwangsläufig die musikalische Isolation, auch wenn er mit der Musikwelt draußen regen Briefkontakt pflegte. Die Abgeschiedenheit war der Weiterentwicklung seines ganz persönlichen, kreativen Kompositionsstils sicher dienlich: Wohlgeordnete Strukturen, eine Vorliebe für Tanzsätze, für die Gleichberechtigung der Stimmen und für eingängige Melodien – das alles macht Boccherinis Musik aus.

    So komponierte er etwa 1780 ein äußerst ungewöhnliches Stück Kammermusik, das das Cuarteto Casals auch für seine neue CD aufgenommen hat: "Die Nachtmusik auf den Straßen von Madrid" ist eine Art kammermusikalische Programmmusik, ein akustischer Spaziergang durch die nächtliche Hauptstadt. Wir hören das Ave-Maria-Läuten, die Trommeln der Soldaten, die Lieder der Bänkelsänger, das getragene Rosenkranz-Gebet und noch einige andere Klangerlebnisse zu später Stunde. Boccherini soll seinem Verleger gegenüber geäußert haben, diese Nachtmusik sei außerhalb Spaniens unbrauchbar, gar lächerlich, denn die Zuhörer könnten sie nicht verstehen.

    Das erweiterte Cuarteto Casals beweist das Gegenteil: Sein Nachtmusik-Quintett lässt vor dem inneren Auge Bilder entstehen, aber die sind weder knallbunt noch überzeichnet, denn das Cuarteto Casals liefert kein naturalistisches Hörspiel, vielmehr bildet es eine Erinnerung ab. Zum Beispiel an das Glockenläuten, das Rühren der Trommel und den Tanz blinder Straßenmusiker.

    "I. Il campane quando suonano l’Ave Maria
    II. Il tamburo del quartier die soldati
    III. Minuetto dei ciechi
    aus "La musica notturna delle strade di Madrid", op. 30 Nr. 6"

    Das Studium eines neuen Stückes sei für sie wie das Erlernen einer neuen Sprache. So haben es die Casals-Musiker mal in einem Interview beschrieben. In ihrer 14-jährigen Ensemblegeschichte haben sich die vier mittlerweile vielfältige Sprachkenntnisse angeeignet, denn nichts liegt ihnen ferner, als sich in irgendeiner Weise auf ein Repertoire zu beschränken beziehungsweise ihren ganz eigenen Quartettklang jedem neuen Werk überzustülpen. Jeder Musik begegnet das Cuarteto Casals mit Offenheit und Ernsthaftigkeit, mit Interesse und großem Können. Für seine neue Boccherini-Aufnahme hat es nun also die Tür zum Rokoko aufgestoßen und sich das entsprechende Vokabular angeeignet. Phrasierung, Dynamik, Tongebung und Klangsprache orientieren sind an der historischen Aufführungspraxis. In keinem Moment hat man das Gefühl: Hier hat sich ein durch und durch klassisches Streichquartett zu weit aus dem Fenster gelehnt. Schließlich ist das Cuarteto Casals ein durch und durch hervorragendes Streichquartett, dessen Devise so schlicht wie bestechend ist: Die vier Musiker spielen einfach, was sie gerne spielen.

    "I. Allegro comodo aus Streichquartett g-moll, op. 32 Nr. 5"

    Bekanntes und Ausgefallenes. Das Cuarteto Casals aus Spanien liefert mit seiner neuen CD einen spannenden Querschnitt durch das überhaus reiche Kammermusikschaffen von Luigi Boccherini. Die neue CD ist kürzlich bei dem Label harmonia mundi erschienen.