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Mädchen im Umbruch

In seinem Musiktheater thematisiert Triennale-Intendant Heiner Goebbels die Adoleszenz von Chormädchen aus der slowenischen Stadt Maribor. Oberflächlich haben die ausgewählten Texte nichts mit der spezifischen Situation slowenischer Jugendlicher zu tun. Hintergründig schon.

Von Frieder Reininghaus | 27.09.2012
    Leiser Sphärenklang breitet sich in der großen alten Bochumer Industriehalle aus, kulminiert in einem watteweichen wunderschönen Dominantseptakkord, der auch auf konventionelle Weise erlöst wird.

    Ein stattlicher Trupp Schulmädchen und junger Frauen zieht auf die weite Spielfläche. Er tastet sich an den neun umgestürzt daliegenden Stühlen vorbei oder stolpert über sie auf den großen Stuhlberg rechts vorn zu. Die Sängerinnen fordern penetrant wiederholend, "just listen to me". Ja doch, gewiss, wir wollen der Konzeptkunst mit und von den adoleszierenden Akteurinnen und ihren jeweils deutlich in englischer Sprache formulierten Botschaften lauschen.

    Die vom Triennale-Intendanten Heiner Goebbels ausgewählten Texte stammen von Jean-Jacques Rousseau, Joseph von Eichendorff, Adalbert Stifter, Gertrude Stein, Marina Abramoviæ und anderen, haben vordergründig nichts mit der spezifischen Situation slowenischer Jugendlicher zu tun, aber hintergründig mit Fragen wie Frohsinn und Altern oder Tod, mit dem Weg der Gedanken vom Kopf aufs Papier, mit Abschied von der Kindheit, Heimat und Heimatkunst. Mit fröhlichem Klatschen und Lärmen, andächtiger Stille und Ringelpiez.

    Angezogen sind die Sängerinnen und Sprecherinnen des Schülerinnenchors, wie Personen dieser Altersgruppe heute eben angezogen sind. Sie repräsentieren sich wohl selbst und stellen Fragen beziehungsweise reagieren responsorisch auf Fragen, die aus den dem Projekt zugrunde gelegten Texten resultieren. Sie wurden auch wie beim Pina-Bausch-Theater minutiös choreografiert. Die auf die Folklore der Herkunftsregion gestützten Gesänge werden so präzise und gekonnt ausgeführt wie die Bewegungsabläufe. Bei den Carmina Slovenica handelt es sich um ein Elite-Ensemble, das auf internationalen Jugendchorwettbewerben beste Chancen hat.

    "Was sie machen, das hätte man mit einer hiesigen Schulklasse wohl kaum so hinbekommen", meinte eine sachkundige Oberstudienrätin neben mir. Sie verwies auf die offensichtlich noch tradierten Nebenwirkungen der Pädagogik im vordem bedingt sozialistischen Jugoslawien bezüglich Disziplin, Ordentlichkeit und Einfügungsbereitschaft ins Kollektiv.

    Da zeichnet sich – wie schon bei Lemi Ponifasios Verklärung von Carl Orffs "Prometheus" vor zehn Tagen – eine schöne neue heile Gemeinschaftswelt nicht nur am Horizont ab, sondern rückt für manche beglückend nahe. Die nachwirkenden Tugenden wurden im einen wie im andern Fall in wunderschöne stille oder heiter bewegte, mit naiver Kunst und Kuscheltieren angereicherte Bilder eingebracht. Einmal brechen in ihnen blutige Mädchenfantasien hervor, ein andermal sorgt der Eichendorffsche Gärtner für Bodenhaftung zu verflossener Idylle.

    Die in Bochum vorgeführten Elevinnen kommen aus Maribor in Slowenien. Dieser Ortschaft hat die Brüsseler Eurokratie den Titel und die Geldzuwendungen einer "Kulturhauptstadt Europas" zuerkannt. Von daher weht der Wind der Völkerfreundschaft.

    Die neue Kreation von Heiner Goebbels richtet sich dezidiert gegen kulturelle Demarkationslinien und Grenzen. Sie bewegt sich programmatisch auf den von rot-grünen Landesregierungen vorgezeichneten Bahnen des besonders Förderungswürdigen und dürfte gerade mit dem gestrigen Abend den Hauptgeldgeberinnen besonders entsprochen haben.

    Dass sich das Bochumer Projekt im Resultat einer neuen ästhetischen Ordentlichkeit und Sauberkeit annähert, wie sie Alexander Pereira und Sven-Eric Bechtolf unter neokonservativem Vorzeichen und pädagogischen Aperçus bei den Salzburger Festspielen durchsetzten, mag Ironie der Geschichte sein.

    Heiner Goebbels besaß schon von jeher ein feines Gespür für gesellschaftliche Trends. Nun hat er weit ausgeholt und mit der opulent-konservativ bebilderten Rekonstruktion der "Europeras" 1 & 2 von John Cage die Schaulust der Modernen von gestern bedient, mit der Rehabilitierung des in der Nazi-Zeit systemkonform aktiven Komponisten Orff in seinen Augen wohl einen Schritt zu allfälliger "Normalisierung" getan und zuletzt ein schlichtes und schönes Lehrstück mit niedrigschwelligem Zugang für kulturbildungsferne MitbürgerInnen auf den Weg gebracht. Heiner, der Kampf durch die Institutionen geht weiter!

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