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Männer ohne Herz und Jünglinge ohne Verstand

Es geht um Drogen, um Massenmorde auf der Autobahn, im ICE oder in einem Motel – aber ein Thriller will dieser Roman dennoch nicht sein. "Du" ist eher eine düstere Fantasie - durchdrungen von einer philosophischen Frage, auf die das Buch allerdings bis zum Schluss keine Antwort gibt.

Von Michael Schmitt | 11.01.2011
    Weiß ein Nachtfalter, was er tut, wenn er in die Flamme einer Kerze hineinfliegt und verbrennt? Oder weiß er es nicht? Hat er etwas in der Flamme gesehen, was ein Mensch nicht sieht? Will er vielleicht sogar sterben? Und was passiert mit einem Menschen, wenn der mit voller Absicht in eine vergleichbare Flamme hineinfliegt – und dann merkt, dass gar nichts passiert? Wenn er gegen zentrale moralische und soziale Gesetze verstößt und feststellt, dass kein Gott und auch niemand sonst ihn bestraft, dass er also durch die Flamme hindurch fliegen kann und das Feuer nie wieder wird scheuen müssen?

    Erst ganz am Ende von Zoran Drvenkars neuem Roman "Du" wird diese letzte aller Fragen explizit gestellt, aber auf den fast 600 Seiten davor handelt das Buch von nichts anderem, spielt in rasendem Wechsel Situationen durch, in denen die Figuren mit diesem genau diesem und keinem anderen Thema beschäftigt sind – auch wenn es ihnen womöglich gar nicht bewusst ist: Als einsame Mörder, als lebenshungrige Mädchen, als verwirrte junge Männer, als skrupellose Kriminelle, als Väter, Söhne und Töchter, die sich gegenseitig keinen Rückhalt geben können.

    Zwischendrin geht es um Pillen und um kiloweise Heroin von bester Qualität im Gesamtwert von drei Millionen Euro, um unerklärliche Massenmorde im Stau auf der Autobahn, im ICE oder in einem Motel – aber ein Thriller nach bekanntem Muster will dieser Roman dennoch nicht sein. "Du" ist eher eine düster-romantische Fantasie, durchsetzt mit außergewöhnlichen Schockelementen und durchdrungen von einer letztlich philosophischen Frage, auf die das Buch allerdings bis zum Schluss keine Antwort gibt. Und wohl auch keine Antwort geben will, denn dieser Roman ist vor allem eine äußerst suggestive Einladung, der zentralen Frage auf möglichst vielen Wegen nachzuspüren, Möglichkeiten auszuprobieren, an einem Abgrund entlang zu spazieren und dann auch hineinzustürzen. "Du" ist eine wilde Jagd in kurzen pointierten Sätzen. Ein Roman über eine Anspannung, die alle Figuren beherrscht, kein Buch, das seine Figuren psychologisch tiefschürfend ausloten möchte.

    Das Geheimnis seiner Wirkung ist die vielfach aufgesplitterte personale Erzählweise: "Du", das ist von Beginn an stets auch der Leser selbst, der den vielen Figuren schnell wechselnd in ihrer subjektiven und immer unzureichenden Sicht auf die Dinge folgen muss. Man weiß also eigentlich nie mehr als die jeweilige Figur durch deren Augen man sieht - und gewinnt, weil die Handlungsstränge raffiniert verflochten sind, bis zuletzt nie die Distanz eines souveränen außenstehenden Beobachters. "Du" bedeutet mal den Blick von seelenlosen Männern Ende 40 und mal die Sicht von 15-, 16-jährigen Mädchen, die viel Mut und noch mehr Gefühl haben, aber keine Ahnung davon, in welche Abenteuer sie sich stürzen. "Du" kann der Blick eines verliebt-verlorenen Mannes Ende 20 sein, aber auch der eines 17-Jährigen, der seinen Körper wie einen Panzer hochgetrimmt hat, um seinem überlebensgroß erscheinenden Vater zu imponieren. "Du" ist eine 15-Jährige, die ihren Vater verführt oder auch ein toter Mann mit verdämmerndem Bewusstsein in einer Tiefkühltruhe. "Du" ist alles das, was nachtschwarz in Menschen lauern kann. Es ist kein Spiegel der Wirklichkeit, sondern ein Spektrum von denkbaren Möglichkeiten, zusammengefügt zu einem Parcours aus Perspektivwechseln, Erinnerungen und undurchschaubarer gefährlicher Gegenwart. Und es fällt nur wenig Licht in diese dunkle Welt.

    Er wolle seine Figuren in Grenzsituationen hineintreiben, hat Zoran Drvenkar schon vor einigen Jahren einmal zu seinen Büchern erklärt; er wolle ausprobieren, was dann passiert, also letztlich: was ihm als dem Erzähler dann dazu einfällt. So hat er 2003 seinen ersten Thriller "Du bist zu schnell" angelegt, und schon damals hieß es in einer Rezension, dass das alles eigentlich haarsträubend sei, aber dennoch ungeheuer mitreißend. "Du" ist nun das vierte Buch in dieser Tradition – neben seinen vielen herausragenden Jugendbüchern, die oft ähnliche Erzählmuster aufweisen. Und es scheint, als gingen ihm weder die Stoffe noch die erzählerischen Möglichkeiten aus.

    Zugespitzt formuliert führt Zoran Drvenkar diesmal rund ein Dutzend Figuren in allseitiger und permanenter Notwehr vor; Menschen mit starken Gesten und zuweilen recht schwachem Charakter. Eine Gruppe von fünf Mädchen, die zusammenhält wie Pech und Schwefel. Männer ohne Herz, Jünglinge ohne Verstand. James Ellroy hat in seinen Romanen um das Los Angeles der 40-Jahre vergleichbare Erzählweisen benutzt, allerdings noch viel kleinteiliger und subtiler – aber während bei Ellroy der historisch-empirische Hintergrund eine bedeutende Rolle spielt, löst Zoran Drvenkar seine Geschichte letztlich völlig ab von sogenannter Realität, verankert sie nur mehr vage an wiedererkennbaren Orten und überhöht die Welt, die er inszeniert, zu einer Gefühlslandschaft, wie man das aus Gothic Novels und B-Picture-Spielfilmen kennt. Düstere Keller, verfallene Hotels an einsamen Fjorden, nächtliche Autobahnen im Schneegestöber – man kennt das Repertoire, man spürt auch das Pathos, das in diesen Inszenierungen regiert, aber man verzeiht ihm die herbeizitierten Requisiten, weil sie durch die Art, wie sie montiert werden, ein ganz neues Ansehen gewinnen.

    Man darf, wenn man will, an Quentin Tarrantinos Leinwandopern denken.

    Auch wenn Du nicht willst, musst Du trotzdem nach der Dunkelheit fragen, erklärt sinngemäß einer der Protagonisten seinem Gegenüber bei einer Art von Showdown mit offenem Ende. Und was dann zählt, ist nicht die Antwort, sondern dass die Frage keine Ruhe gibt.

    Zoran Drvenkar: "Du". Roman, Ullstein Verlag, Berlin 2010, 576 Seiten, Euro 19,95