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Männerbeschwerden der peinlichen Art

In der großen Tradition der Selbstanalyse und Selbstaufklärung des westlichen Individuums steht das neue Buch von Tim Parks. Fesselnd schildert er den Schmerz im Beckenboden, den nächtlichen Harndrang, und das, ohne zu bekehren.

Von Dr. Eberhard Falcke | 04.03.2011
    Der Schmerz ist ein klassischer Auslöser für Literatur, sei es der existenzielle, amouröse, psychische oder geistige. Selten jedoch geht es um einen so konkreten, nicht nur peinigenden, sondern auch peinlichen Schmerz, wie im neuen Buch von Tim Parks. Denn dieser Schmerz wütet im Sitzfleisch - oder anatomisch korrekt ausgedrückt: im Beckenboden. Und da er mit häufigem nächtlichem Harndrang verbunden ist, erscheint er zunächst als ein ernster Fall von Prostatabeschwerden. Von der ersten Seite an läßt Parks keinen Zweifel daran, dass es hier um ein Männerleiden geht, an dem er selbst jahrelang gelitten hat.

    "Das war wirklich meine eigene Erfahrung. Als ich gezwungen war, mich mit dieser Krankheit auseinanderzusetzen, anstatt das einfach dem Arzt zu überlassen, entdeckte ich, wie sehr sie ein Teil meines Lebens war. Und dadurch begann ich, mein Verhalten zu begreifen. Das war unglaublich wichtig, es war die größte Lernerfahrung, die ich gemacht habe, seitdem ich aus der Wiege kam. Und es war keine intellektuelle Erfahrung, es waren Einsichten und Kenntnisse, die sich mir aufdrängten, unabhängig von jeder intellektuellen Reflexion."

    Ein wahres Abenteuer also, wenn auch keines, das sich jemand wünschen würde. Anfangs war Parks durchaus bereit, sich auf die Ärzte zu verlassen. Doch bald stellte sich heraus, dass die Diagnosen nie so ganz ins Schwarze trafen, dass die Heilungsprognosen der geplanten Eingriffe sich immer wieder als vage und ungewiss darstellten. Also übernahm der Patient zunehmend die Initiative. Er begann Erkundigungen einzuziehen, Krankheitsbilder zu studieren, sich selbst zu beobachten und im Internet zu recherchieren. Irgendwann merkte er, dass sich da ein Erzählstoff entwickelte, der ihn mehr betraf als manch anderer.

    "Als ich diese chronischen Schmerzen und all die Probleme beim Wasserlassen hatte, war es das Letzte, was ich wollte, darüber zu reden. Die ersten Seiten waren schwierig, denn: Wie macht man das, über die Probleme mit den Toilettenbesuchen zu reden, über das häufige Aufwachen in der Nacht, die Schmerzen und all das? Also setzte ich mich hin und schrieb die erste Szene, wo der Arzt die Skizze von der Prostata macht. Und da war es. Ich wusste einfach: Das ist die richtige Art, anzufangen."

    Und merkwürdig genug: Das Buch entwickelt sogleich einen beachtlichen Sog. Das hat viel weniger mit dem Thema zu tun, sondern mit der Art, wie der Autor es angeht. In diesem Fall gilt der Satz des Comte de Buffon ganz besonders: Der Stil, das ist der Mensch selbst. Denn Tim Parks verhandelt eine höchsteigene Angelegenheit und darin zeigt sich der persönliche Stil noch mehr als sonst. Dieser Stil ist lebendig, kritisch, offenherzig und genau, sowohl in der Sprache als auch im Denken.
    Aus der Welt der Ärzte und ihrer Schulmedizin sind bald keine entscheidenden Wegweisungen mehr zu erwarten. Literatur und Philosophie bieten keine rettenden Hinweise, doch immerhin ein paar vergleichbare biografische Fakten oder gedankliche Motive. Thomas Bernhard und T.H. Lawrence, Montaigne und Rousseau kommen dem Geplagten in den Sinn. Natürlich drängt sich die Frage nach psychosomatischen Zusammenhängen auf. Als Parks aber einen ayurvedischen Arzt in Delhi konsultiert, belehrt dieser ihn, dass von Psychosomatik nur jene reden, die daran glauben, dass Körper und Geist je getrennt sein könnten. So erweitern sich im Lauf der Zeit die Perspektiven, ohne dass Schmerzen und Harndrang nachlassen.

    "Als ich beschloss, darüber zu schreiben, wurde mir bewusst, dass sich im Zeitraum von drei oder vier Jahren sehr klare Phasen unterscheiden ließen. Am Anfang stand die Periode der chronischen Schmerzen, dann kam eine Zeit völliger Verwirrung und dann folgte der Druck, andere Möglichkeiten und Auswege zu suchen, sonst steckt man im Gefängnis und das war's dann. Als ich über das Buch nachdachte und darüber, wie ich mich verändert hatte, wie meine Skepsis sich verändert hatte, merkte ich, dass viel von der vergangenen Skepsis auf Angst beruhte. Und dass es nicht intelligent ist, etwas nicht zu versuchen."

    Eines Tages stieß Parks bei Internetrecherchen auf das Selbsthilfebuch zweier amerikanischer Ärzte mit dem Titel "Kopfschmerzen im Becken". Darin fand er Symptome beschrieben, die mit seinen eigenen verblüffend genau übereinstimmten. Demnach ging es weniger um die Prostata als um Verkrampfungen der Muskulatur im Beckenboden. Als Gegenmittel wurden genau beschriebene Entspannungsübungen empfohlen.
    Parks probierte sie aus und das war der Durchbruch zur Linderung. Außerdem begann er, einige Prägungen seiner Persönlichkeit ins Auge zu fassen. Er ist der Sohn eines anglikanischen Pfarrers. Die Strebsamkeit und den Ehrgeiz des Vaters erkannte er auch an sich selbst. Ganz zu schweigen von der Vorherrschaft seines obsessiven Geistesleben über alle Belange des Körpers. Zwanzig Bücher hat er nicht nur geschrieben, sondern auch in angespanntester Schöpfungsarbeit ersessen. Er fragt sich: "War es möglich, mit 51 Jahren dieses angespannte und irgendwie, so schien mir, sprachbestimmte Verhalten zu ändern?" Parks entwickelte seine Entspannungsübungen weiter und landet schließlich bei einer klassischen Form der indischen Meditation. Trotzdem gebärdet er sich nicht als Überläufer zur östlichen Weisheit.

    "Ich hasse das Wort Meditation. Außerdem muss man wissen, dass das Sanskrit-Wort für Meditation nichts anderes bedeutet, als geistige Disziplin. Das ist viel interessanter. Man muss nirgendwo hingehen, um das zu praktizieren. Die Leute gehen nach Indien. Warum? Man hat seinen Geist hier, man muss dafür nicht dort sein. Insofern war das Schreiben dieses Buches ein ständiges Wandern über ein Minenfeld mit dem Bewusstsein, dass man Gefahr läuft, sich törichterweise für die falschen Dinge zu begeistern. Oder die Schulmediziner über die Maßen zu kritisieren. Ich glaube wirklich, die wollten für mich das Bestes tun, ich denke nicht, dass sie sich wie Scharlatane aufgeführt haben."

    Parks' Buch ist weder Medizinkritik noch Selbsthilferatgeber, es deutet nicht die Krankheit als Weg und es verspricht nicht die Heilung westlicher Zerrissenheit durch östliche Spiritualität - obwohl all diese Bereiche berührt werden und noch vieles mehr, wie etwa die Leidenschaft für Kajakfahrten im Wildwasser. Auch, nachdem Parks den Durchbruch zu tieferer Einsicht und Linderung geschafft hat, verzichtet er darauf, seine durchaus beachtlichen Erfahrungen in Botschaften oder missionarische Ratschläge umzuschmieden.

    "Sie müssen bedenken, dass ich als Sohn einer evangelischen Familie aufwuchs. Daher halte ich nichts vom Bekehren, das kann ich nicht, das will ich nicht. Und ich würde mich furchtbar schuldig fühlen, wenn ich anfinge, den Leuten zu sagen, wie sie ihre Probleme lösen sollen."

    "Die Kunst stillzusitzen" steht in der großen Tradition der Selbstanalyse und Selbstaufklärung des westlichen Individuums. Das macht dieses Buch so fesselnd, überzeugend und unverwechselbar. Kaum zu glauben, dass derlei sogar von Männerbeschwerden der peinlicheren Art angestoßen werden kann.

    Buchinfos:
    Tim Parks: Die Kunst stillzusitzen. Ein Skeptiker auf der Suche nach Gesundheit und Heilung. Aus dem Englischen von Ulrike Becker. Kunstmann Verlag, München 2010. 364 Seiten; 24,90 Euro.