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Männerroman voller Klischees

Jewgenij Grischkowez, 1967 in Sibirien geboren und in Kaliningrad lebend, ist ein berühmter Theaterautor, der mit der Performance "Wie ich einen Hund verspeiste" auch über die Grenzen Russlands hinaus Aufsehen erregte. Seine Stücke entwickelt er aus Improvisationen, und nicht selten handeln sie von den Schwierigkeiten der Provinzler in der Metropole Moskau - so, wie sein erster Roman "Das Hemd".

Von Jörg Plath | 22.12.2008
    Dem Hemd ergeht es wirklich schlecht. Es ist Alexanders Lieblingshemd, und er zieht es morgens an, weil er ja die Frau treffen könnte, in die er sich über beide Ohren verliebt hat. Mehrmals während des langen Moskauer Tages muss das Lieblingshemd auf Toiletten gereinigt werden: von Staub, von Cocktailflecken und von Blut, vom Schmutz der Metropole, von ihren Vergnügungen und ihrem Leid. Spät in der Nacht wirft Alexander das verdreckte Kleidungsstück dann auf den Boden in seinem Schlafzimmer, und damit endet der Roman "Das Hemd" von Jewgenij Grischkowez.

    Anders als das Hemd bleibt sein Träger erstaunlich unbeschadet. Einen egozentrischen, handlungsgehemmten, entwurzelten Softie hat der 1967 geborene und mit Theaterstücken bekannt gewordene Grischkowez zum Antihelden seines Romans gemacht. Alexander lebt - von Frau und Kind getrennt - in Moskau als mäßig erfolgreicher Architekt für Friseur- und Schönheitssalons. Unter anderen Umständen hätte ihn der Besuch von Max, dem alten Freund aus der Heimatstadt, über alle Maßen erfreut: Endlich wieder bis zur Bewusstlosigkeit trinken und reden oder gemeinsam das Ernest-Hemingway-Spiel spielen, bei dem mit allen Mitteln um schöne Frauen geworben wird, um sich zu guter Letzt zu deren Erstaunen am Taxi zu verabschieden! Nur hat sich Alexander gerade verliebt in eine Frau, die durch das ganze Buch als "SIE" geistert und ständig auf dem Handy anruft oder angerufen wird. Max wird stören. Auf der Fahrt zum Flughafen, wo Alexander den Freund abholen will, hört der Verliebte im Radio von einem verheerenden Flugzeugabsturz.

    " Sofort dachte ich an Max. Aber ich hatte nicht mitbekommen, wo das Flugzeug abgestürzt war. Aha - Pakistan... Flüchtig streifte mich Enttäuschung. Im nächsten Moment schalt ich mich dafür. Aber ich tat es irgendwie so... unaufrichtig, halbherzig und phantasielos.

    Wenn das Max' Flugzeug gewesen wäre ... Entsetzlich ... Zum Teufel - entsetzlich wäre das. Aber ... Kein "Aber" ... Entsetzlich! ...

    Aber dann hätte ich einen echten Grund, unglücklich zu sein. Ich wäre ehrlich am Boden zerstört, wenn es Max' Flugzeug gewesen wäre. Ich könnte wunderbar eine ganze Woche durchtrinken, irgendwo abtauchen oder vor aller Augen trinken. Und alle hätten Mitleid. Doch das Wichtigste wäre, ich könnte SIE anrufen, gleich jetzt! "

    Der Todeswunsch für Max aus Selbstmitleid bleibt unerfüllt. Max lebt, und als Provinzler will er in Moskau In-Lokale und Prominente sehen, Frauen aufreißen und sich mit Alexander betrinken. Alexander aber denkt nur an seine Liebe. Die Freunde fahren durch die Stadt, trennen sich, treffen sich wieder, glauben sich verfolgt von einem Mercedes, vergessen mehrmals eine Aktentasche, bekommen sie nachgetragen und reden über die Aktentasche, über eine Taschenlampe, über Geld, über Zigarren, die Frauen und das Leben. Und weil die beiden Russen das Männerklischee schlechthin verkörpern, sprechen sie über alles im Allgemeinen - also nicht über die spezielle Frau, an die Alexander dauernd denken muss, und erst am Ende über das eigene Leben, in dem Max von seiner Ehefrau verlassen worden ist. Einige dieser Dialoge blendet der Theaterautor Grischkowez in die Ich-Erzählung ein und beseitigt die letzten Zweifel an der vollkommenen Banalität des Geschehens:

    " ICH: Übrigens diese Behälter für Zigarren...
    MAX: Die mit dem komischen Namen?
    ICH: Humidor.
    MAX: Wie?
    ICH: Humidor. Nicht zu verwechseln mit Labrador. Diese Humidore sind manchmal auch so was von teuer! Sie müssen eine bestimmte Feuchtigkeit halten, dafür haben sie sogar eine spezielle Vorrichtung... Verschiedene Zigarren in ein und demselben Behälter aufzubewahren ist auch nicht empfehlenswert... und so weiter und so weiter. Und alles ist teuer...
    MAX: Zum Teufel! (Max musste husten.)
    ICH: Nicht Lunge!
    MAX: Weiß ich doch! Es klappt nur nicht. Ich inhaliere irgendwie automatisch (hustete). Mist!
    ICH: Ich hab's dir gesagt! "

    Alexander wird Max noch viel mehr sagen, und schließlich werden sie zusammen weinen. "Das Hemd" ist ein Männerroman voller Klischees. Vom Frauenroman unterscheiden den Männerroman nur die handelnden Personen und der Umgang mit Gefühlen. Das emotionale Geschehen delegiert Grischkowez etwa an das schmutzig werdende Hemd, das am Ende zu Boden fällt, damit der Held seinen unbefleckten Körper bewundernd im Spiegel betrachten kann. Oder die Gefühle werden an Tagträume delegiert, in denen Alexander Freund Max aus Todesgefahr rettet oder sich mit ihm gemeinsam opfert. Es sind pubertäre Heldenträume und weinerliche dazu:

    " Ich musste irgendwas Heißes und Süßes trinken. Ich tat einen großen Schluck... und musste beinahe laut schreien... So stark hatte ich mir den Gaumen verbrannt und ... die Speiseröhre. Die Tränen stiegen mir in die Augen, ich spürte, wie sich die Haut am Gaumen abschälte. (...) Ich steckte einen Finger in den Mund, kratzte die verbrannte Haut vom Gaumen und wischte die Hand an meiner Öljacke ab. Jede Empfindlichkeit war abgestumpft. "

    Diese Geschichte dieser furchtbaren Leiden, von Beate Rausch recht elegant übertragen, wurde in Russland bereits 100.000 Mal verkauft. "Neuer Sentimentalist" nennt sich Jewgenij Grischkowez. Besser kann man es nicht sagen.

    Jewgenij Grischkowez: Das Hemd. Roman.
    Aus dem Russischen von Beate Rausch. Ammann Verlag. Zürich 2008. 268 S., 19,90 Euro