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Magnet mit Higgs

Mit der Entdeckung des Higgs-Teilchens am Superbeschleuniger LHC war der Mechanismus enträtselt, wie die Materie überhaupt zu ihrer Masse kommt. Ein internationales Forscherteam glaubt nun, den gleichen Higgs-Mechanismus in einer ultrakalten Keramik aufgespürt zu haben.

Von Frank Grotelüschen | 08.08.2012
    Was haben sie gejubelt, Aberhunderte von Teilchenphysikern, als am 4. Juli die Entdeckung des Higgs-Teilchens vermeldet wurde. Eine wissenschaftliche Sensation. Denn seitdem wissen die Experten, warum winzige Elementarteilchen überhaupt Masse besitzen. Ganz so emotional dürfte die Reaktion auf den Fachartikel von Yixi Su zwar nicht ausfallen. Seine Entdeckung ist weniger sensationell, dafür aber ziemlich verblüffend.

    "Wir haben entdeckt, dass sich der Higgs-Mechanismus auch auf ein anderes Feld der Physik anwenden lässt."

    Und zwar auf die Materialforschung. Gemeinsam mit Kollegen aus Taiwan, Japan und Großbritannien hat Yixi Su vom Forschungszentrum Jülich eine spezielle Keramik untersucht, Ytterbium-Titanat. Ein glasartiges Material, das bei frostigen Temperaturen ungewöhnliche Magneteigenschaften zeigt.

    "Bei 0,2 Kelvin, bei etwa minus 273 Grad Celsius, ändert das Material plötzlich seine magnetischen Eigenschaften. Oberhalb dieser Temperatur liegt ein Zustand vor, der - magnetisch gesehen - vergleichbar ist mit einer Flüssigkeit. Unterhalb von 0,2 Kelvin ordnet sich das Material dann schlagartig um zu einem magnetischen Zustand, wie man ihn in Eisen findet."

    Oberhalb der Temperaturschwelle formen die magnetischen Pole ein komplexes Muster. Unterhalb dagegen sind sie hübsch parallel angeordnet - ein deutlich simpleres Muster. Um allerdings die beiden Strukturen überhaupt erkennen zu können, mussten die Forscher einen gehörigen Aufwand treiben: Am Forschungsreaktor FRM 2 in Garching lenkten sie Neutronen - winzige Kernteilchen - auf die abgekühlte Keramik. Neutronen reagieren höchst feinfühlig auf magnetische Unterschiede.

    "Damit konnten wir beobachten, wie sich die magnetischen Pole umgeordnet haben. Denn der Materiezustand oberhalb der Temperaturschwelle hat die Neutronen ein wenig anders gestreut als der Materiezustand unterhalb. Ein deutlicher Hinweis, dass tatsächlich ein Phasenübergang stattgefunden hat."

    Nur: Mit den üblichen Theorien der Materialforschung lässt sich dieser Phasenübergang nicht verstehen. Wohl aber mit einer mathematischen Beschreibung, entliehen aus einem ganz anderen Zweig der Physik, nämlich der Teilchenforschung.

    "Wir können diesen Prozess mithilfe des Higgs-Mechanismus beschreiben. Dieser Mechanismus sorgt dafür, dass die magnetischen Pole plötzlich einfrieren - ganz analog dazu, wie Elementarteilchen ihre Masse durch das Higgs-Feld erhalten. Wir haben also gezeigt, dass der Higgs-Mechanismus nicht nur bei Elementarteilchen eine Rolle spielt. Er kann auch Phänomene in den Materialwissenschaften erklären."

    Allzu wörtlich will Yixis Su die Analogie allerdings nicht verstanden wissen. Denn seine Magnetpole reagieren nicht etwa mit jenem Higgs-Feld, durch das Elementarteilchen ihre Masse gewinnen. Doch die abstrakte mathematische Beschreibung ist im Prinzip die gleiche, die sich der schottische Physiker Peter Higgs in den 60er-Jahren ausgedacht hatte.

    "Diese Forschung ist wichtig, um die Grundlagen des Magnetismus zu verstehen. Und diese Grundlagen sind essenziell für unsere moderne Informationstechnologie. Sollte es uns gelingen, ein Material zu finden, bei dem der Higgs-Mechanismus nicht nur bei tiefen Temperaturen stattfindet, sondern bei Raumtemperatur, könnte das eines Tages sogar interessant sein für neue Anwendungen."

    Wobei der Forscher vor allem an die sogenannte Spintronik denkt - eine vollkommen neue Art von Elektronik, die irgendwann einmal für schnellere Computer und größere Datenspeicher sorgen könnte.