Donnerstag, 25. April 2024

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Malerei ist eine Waffe

"Nein, die Malerei ist nicht erfunden, um Wohnungen auszuschmücken! Sie ist eine Waffe zum Angriff und zur Verteidigung gegen den Feind." Man ahnt, dass dieses Zitat Produkt einer anderen als der heutigen Zeit ist.

Von Ulrich Rüdenauer | 16.01.2006
    Es stammt aus einer Epoche, als Künstler gegen die bürgerliche "Institution Kunst" aufbegehrten, Manifeste in emphatischem Ton veröffentlicht wurden, die aus den Angeln gehobene Welt während der Weltkriege und zwischen den Kriegen sich in verstörenden Bildern und Skulpturen wieder fand und auch Kritiker Strategen im Kulturkampf waren. Gegen das Dekorative wurde – wie hier im Zitat von Picasso – polemisiert, und nicht wenige Künstler wollten mit ihrer Kunst zugleich die gesamte Welt und die vermaledeiten Verhältnisse verändern. Der Ästhetizismus war der Feind. Experimentelle Malerei war automatisch auch fortschrittliche Malerei. Max Ernst fasste das im Rückblick so:

    "I was born with a very strong feeling of need of freedom, liberty. And that means also with a very strong feeling of revolt. Revolt and revolution is not the same thing. But when you have this very strong feeling of, this need of revolt, this need of freedom, and you are born into a period, where so many events invite you to get revolted and throw over, what is going on in the world, and you are disgusted with it and so on, then it is absolutely natural that the work you produce is revolutionary work. "
    Wenn man in eine solch turbulente Zeit hineingeboren werde, sagt Max Ernst also, sei es absolut natürlich, dass die Werke, die man schafft, revolutionäre Werke seien. Die Radikalität wurde zwar in der Kunst, im Politischen oder Sozialen hingegen seltener eingelöst. Wir befinden uns also in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, und die historische Avantgarde bläst zum Bildersturm. Die Kunst, so hat es Peter Bürger formuliert, tritt nach den Erfahrungen ihrer Autonomisierung im 19. Jahrhundert in "das Stadium der Selbstkritik ein".

    Der emeritierte Heidelberger Politikwissenschaftler Klaus von Beyme hat nun ein Buch über diese kunsthistorisch bedeutsame Epoche vorgelegt: 1000 Seiten ist es dick und über zwei Kilogramm schwer. Das in einem ganzen Forscherleben gesammelte – ein wenig ausufernde – Material ist darin aufgehoben und ausgebreitet. "Das Zeitalter der Avantgarden" lautet der Titel, und der Untertitel fasst genauer, um was es geht, um "Kunst und Gesellschaft 1905 bis 1955" nämlich. Die Kunst, wird hier gleich auf der ersten Seite behauptet, sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln – der Sozialwissenschaftler ist unter dieser Prämisse also nicht ganz fehl am Platz. Dennoch stellt sich die Frage: Wie verirrt sich ein renommierter Politologe, der ansonsten zu Parteien und politischen Systemen geforscht hat, auf ein von Kunstwissenschaftlern exzessiv bestelltes Feld?

    " Das ist eine lange Entwicklung. Als ich studieren wollte hieß es: Junge, wir haben kein Geld. Als ich gar sagte, ich will Kunstgeschichte, Geschichte und Literaturwissenschaft studieren, hieß es: Junge, studier etwas Rechtes, und was ist das Rechte: das Recht. Also begann ich brav, wie ich damals noch war, das Recht zu studieren. Es hat mir aber nicht sehr gefallen, außer dem Staatsrecht, und dann bin ich in das Nächste gegangen, was dazu korrespondierte, und das war die Politikwissenschaft als Hauptfach. Aber ich habe immer Kunstgeschichte weiter studiert und habe das Interesse weiterverfolgt und relativ früh angefangen, darüber zu publizieren. Insofern ist das nicht völlig aufgesetzt, sozusagen das zweite Leben nach dem wissenschaftlichen Tode eines Emeritus."
    Klaus von Beymes Mammutarbeit ist kein theoretisches Werk, aber eines, das Theorien über die Avantgarde aufnimmt und empirisch überprüft. Ein Buch, das in seiner umfassenden Quellenexegese auf tausend Seiten verdichtet eine für die moderne beziehungsweise postmoderne Kunst grundlegende Phase abbildet und auf breitester Basis mit gesellschaftlichen Prozessen in Verbindung setzt. Und sich dabei häufig auch in einer Katalogisierung und Auflistung verliert statt zu pointierten Thesen zu gelangen. Man mag das als Mangel erachten oder als notwendige Folge des selbst formulierten Anliegens dieser Arbeit:

    "Erstens war es der Versuch, wegzukommen von den rein theoretischen Betrachtungen, die immer häufig in der Linken geführt wurden. Da wurde unaufhörlich Lukacs gegen Adorno ausgespielt. Ich fand, dass diese Debatten erschöpft waren. Und selbst ein Pionier wie Peter Bürger hat unlängst geschrieben, dass man vielleicht zu viel Habermas gelesen habe und sich mal mit Luhmann befassen müsse. Zweitens wollte ich mehr konkrete Forschung vorlegen, mich wirklich mit den Gruppierungen befassen und nicht bloß theoretisch über sie räsonieren, obwohl ich alle Theorien zur Kenntnis genommen habe und versuche, sie einzuordnen. Drittens gehe ich von einem pluralistischen Bild aus. Es gibt nicht die Avantgarde, sondern nur Avantgarden. Und es gibt auch nicht irgendwie eine zwingende Entwicklung zu, sagen wir mal, zu immer mehr Abstraktion. Es gab Einbrüche. Es gab Revivals, Wiederbelebungen, selbst die figurative Kunst hat sich halten können und ist nicht ausgestorben, sie hat andere Formen angenommen, und von dem Ende her kann man sagen, ist das immer ein pluralistisches Feld gewesen."
    Klaus von Beyme beschreibt, wie die verschiedenen Schulen aufeinander bezogen waren. Und welche Auswirkung dieses Agieren in Netzwerken hatte:

    " Diese Auseinandersetzung hat sich verschriftlicht. Sehr viele Künstler, mehr als die Hälfte, haben Kunstpublikationen vorgelegt. Und mein Ansatz ist unter anderem auch der, dass ich einmal diese Künstlerschriften ernst nehme. Und zwar nicht ein paar Große, die viel geschrieben haben, wie Kandinsky. Die werden schon länger ernst genommen, wenn auch nicht alles ernst ist, was sie geschrieben haben, sondern manchmal sehr verquast. Sondern auch die Kleineren, von denen man es gar nicht weiß, die unendlich viele Kunsttraktate abgeliefert haben, und die versuche ich auszuwerten."
    Der von den frühsozialistischen Bewegungen in Frankreich aus der Militärsprache geborgte Name sagt es schon: Avantgarde möchte Vorhut nicht nur im Ästhetischen, sondern auch im Gesellschaftlichen sein. Sie möchte schneller dort ankommen, wo das Neue zu erwarten, eine bessere Ordnung oder besser: Anarchie zu gewärtigen ist, wo Leben und Kunst in eins fallen. In Hunderten von Manifesten drückte sich das Selbstbewusstsein einer längst aller repräsentativen Aufgaben verlustig gegangenen Kunst aus: Es waren keine Vergünstigungen mehr in schon zusammenhängenden Systemen zu erwarten, also musste man sich sein eigenes System erschaffen. Gruppenbildungen und Aufrufe, das Ranschmeißen an politische Ideologien und die Arroganz der künstlerischen Speerspitze waren Ausdruck einer haltlosen Zeit. Von Beyme untersucht diese theoretischen Äußerungen, die künstlerische Werke nicht nur flankieren, sondern teils vorwegnehmen oder allererst erklären, ja, die selbst Teil der Kunst sind, ausführlich. Und er versucht, die Entstehungsvoraussetzungen der diversen Gruppen zu beschreiben.

    " Die Gruppensoziologie ist schon deswegen notwendig, weil ja meine These ist, dass es einerseits eine immer stärkere Individualisierung gibt, dass die Künstler keine Konventionen mehr anerkennen, keinen verbindlichen Kunstbegriff mehr kennen, keine Schule in dem Sinne mehr akzeptieren, und andererseits natürlich nicht als reine Einzelkämpfer leben können. Deswegen haben sie sich sowohl für die Gemeinschaft der Kunstziele als auch als ökonomische und Ausstellungsgemeinschaft immer wieder in Gruppen zusammengeschlossen, und hier sind die Künstlergruppen die verbindenden Glieder. Und sie wurden umso stärker, je mehr es dort Einpeitscher gegeben hat, Führer, wie Breton bei den Surrealisten, Marinetti bei den Futuristen, die ausgesprochen stark waren, auch in der Publizistik, als Führungsfiguren anerkannt waren und womöglich sogar auch einen politischen Impetus in die Gruppe hineingetragen haben."
    Von Beyme umkreist seinen Gegenstand; er nähert sich ihm aus verschiedenen Richtungen. Das Kunstwerk ist für ihn Folge von sozialen Ereignissen und Verhältnissen. Jeder Parameter, der das Zustandekommen avantgardistischer Gruppen und Kunst erklären könnte, wird von ihm herangezogen und anekdotisch untermalt. Ob es um die Sozialstruktur und akademischen Ausbildungen der Künstler geht, um Urbanisierung und Arbeitsmigration, um die Bedingungen des Kunstmarkts, um Frauen und Partnerschaftsverhältnisse, um Religion, Esoterik und Wissenschaft, Technik und Maschinenkult oder den Einfluss der politischen Ebene. Das Problem an diesem Ansatz: Wir haben es mit so vielen, narzisstischen Künstlerindividuen zu tun, dass von Beyme Gemeinsamkeiten häufig auf einen kleinsten Nenner bringen oder schlicht eine immer irgendwie gültige Pluralität konstatieren muss. Verallgemeinerungen sind kaum möglich. Die Ergebnisse dieser Fleißarbeit überraschen oft im Detail, aber selten in ihren Abstraktionen. So formuliert von Beyme etwa zum revolutionären, anarchistischen Gestus der Avantgardisten, was man schon ahnte:

    " Sie waren Revolutionäre in ihrem Experimentalismus, mit der Zerschlagung der Formen, mit ganz neuen Genres, die sich in die herkömmliche Gattungshierarchie nicht mehr einbinden ließ. Sie waren aber keine gänzlichen Revolutionäre in ihrem Lebensstil. Sie haben sehr schnell von den Schmuddelkindern in Montmartre als depravierte Boheme sich überwiegend in den Montparnasse verlagert, weil das ihnen da oben zu touristisch wurde, und dort haben sie eher bürgerliche Lebensformen gepflegt, auch wenn sie sich häufig im Café trafen. "
    Wenn er die politischen und gesellschaftlichen Einflüsse analysiert, so stellt er fest, dass diese eher gering waren. Die Avantgardisten seien ausgezogen, um zu revolutionieren, waren am Schluss aber doch meistens selbst Opfer der großen Politik. Sie wurden entweder in die Emigration getrieben oder ausgenutzt.
    Manche der Kernpunkte in von Beymes Studie, etwa der Internationalismus der Avantgarde oder die Bedeutung der Manifeste, wurden bereits früh in der Forschung gewürdigt. Dennoch verschiebt Klaus von Beyme einige Akzente.

    " Es wird behauptet, dass sie gescheitert sei. Sie ist vielleicht gescheitert in einem Ziel, das gar nicht alle hatten: Kunst und Leben zur Einheit zu machen. Aber sie ist auch gescheitert vielleicht in dem Versuch, gesellschaftliche Veränderungen herbeizubringen. Aber in ihrem eigentlichen Anliegen, in der ästhetischen Revolte, hat sie sich zu Tode gesiegt. Und wenn ich vorhin von dem Pissoir von Duchamp sprach, so ist das heute fast der Normalfall von Assemblagen und Montagen, die wir in all den Ausstellungen finden. Da ist kaum noch ein gemaltes Bild. Wir haben mit Duchamp den ersten, der eigentlich ein hervorragender Maler war, aber müde der Sache wurde und sich ganz andern Dingen zuwandte. Und von dem Ende her, können wir da eine enorme Kontinuität auch zu den Postavantgarden feststellen."
    Klaus von Beymes voluminöser Band über das "Zeitalter der Avantgarden" ist empfehlenswert als außergewöhnliche Material- und Anekdotensammlung, geschrieben in einem trockenen, fast spröden, zuweilen leicht ironischen Stil. Zu einer theoretischen Neubetrachtung aber trägt das Werk nicht allzu viel bei: Unser Wissen über die Avantgarden wird nicht über den Haufen geworfen; vertieft aber wird es durchaus.